Alles neu macht der Mai

Im Monat Mai wurde die die Schweizer Medienszene von zwei Personalentscheiden überrascht, die kaum jemand vorhergesehen hat. Zum einen wurde Publizist Roger de Weck in einer Ruck-Zuck-Wahl zum SRG-Generaldirektor gewählt, zum anderen kürte die NZZ-Gruppe den Unternehmer Peter Hogenkamp (Blogwerk) zum Leiter ihrer “Digitalen Medien”. Bejubelt wurden beide Personalien:

De Weck von den etablierten Journalisten, die sich freuen, dass es einer der ihren an die Spitze des nationalen Fernsehens geschafft hat und die zu einem grossen Teil seine linksliberale Haltung teilen.

Hogenkamp von der Online-Szene, die sich freut, dass es einer der ihren an die Spitze der Online-Aktivitäten des international angesehensten Medienhauses geschafft hat und die zu einem grossen Teil sein Internetverständnis teilen.

Ein Journi also ganz oben bei den Öffentlich-rechtlichen, ein Blogger ganz oben bei NZZ Online. Sind das gute Nachrichten für die Publizistik? Natürlich, denkt man sich, denn beide können hervorragend schreiben und reden. Erwartet werden sie allerdings von unbeweglichen Strukturen, eingefahrenen Abläufen, unproduktiven Sitzungen, langwierigen Budgetverhandlungen und unbefriedigenden Kompromissen. Wir werden sehen, welche Impulse sie geben werden können.

Roger Schawinski hat mal gesagt: “Ein SRG-Generaldirektor hat nur zwei wichtige Aufgaben: Gebühren erhöhen und ihm genehme Direktoren für Radio und Fernsehen portieren”. Das sollte auch für einen eher der Sprache als den Zahlen zugeneigten Generaldirektor ein Leichtes sein.

Die Anstellung von Social-Media-Unternehmer Hogenkamp dagegen ist wegweisend. Anders als de Weck wird der 41-jährige nicht in sechs Jahren zwangspensioniert werden. Es ist ungewiss, wie lange es noch gedruckte Zeitungen und Zeitschriften geben wird, manche sprechen von fünf Jahren, andere von zehn. Inhalte dagegen wird es auch ohne Papier geben. Sollte Hogenkamp seinen Job bis dann behalten, könnte er über einen grösseren Teil der NZZ-Gruppe regieren, als das derzeit der Fall ist.

Dieser Artikel erschien im Pressespiegel von mediaforum.ch, den man hier per E-Mail abonnieren kann.

Arschlochkind – ein Jahr Frau Freitag

Zum 1. Geburtstag eines zu wenig beachteten Lehrerinnen-Blogs.

Blogger werden (von Journalisten) oft gefragt, wo denn nun bitteschön all diese tollen Blogs sind, die angeblich die ganze Medienlandschaft umpflügen werden. Auch wenn man weiss, wie viele tolle Blogs es gibt, weil man ja täglich welche liest, kommt man dann je nach dem in Erklärnot. Denn ja, nicht alle Blogs sind toll, und ja, viele reagieren mehr, als dass sie agieren, und ja, viele haben auch in vielen Zeilen nichts zu sagen, und ja, Bloggen ist auch 2010 für die Meisten entweder Hobby oder Selbstausbeutung.

Man weiss zwar genau, dass es viele grossartige Blogs gibt, aber wenn man nicht beruflich mit ihnen zu tun hat, verliert man sie aus Zeitgründen schnell aus dem Sichtfeld. Eines dieser Blogs ist das Blog von Frau Freitag, das vor einigen Tagen den 1. oder 2. Geburtstag feiern konnte.

Frau Freitag

Wer Frau Freitag ist, weiss niemand so genau, denn sie schreibt (aus mir verständlichen Gründen) anonym. Vielleicht ist sie tatsächlich Lehrerin, vielleicht ist sie aber auch ein 12-jähriger Schüler, eine 73-jährige Pensionärin oder ein 40-jähriger Mann. Vielleicht schreibt sie aus dem echten Leben, vielleicht ist alles auch nur fiktiv (die Kategorie Lehrerfantasien zählt derzeit 49 Beiträge).

Um was geht es im Blog? Um eine Reihe von Lehrern, die Namen von Wochentagen tragen, um Schüler, die Ömer, Carlo, Samira, Micha, Dirk, Susie, Emma, Yusuf, Justin, Abdul, Daniela, Harun, Erol oder Emre heissen, um den Freund von Frau Freitag und um ein Frl. Krise. Personen, die echt sind oder auch nicht und die so beschrieben werden, dass man sie bald wie altbekannte Seriencharaktere vor sich sieht. Mehrmals in der Woche. Immer illustriert von einem dazu passenden Musikvideo. Manchmal schreibt Frau Freitag auch andere Erlebnisse auf, wie dieses Zusammentreffen mit jugendlichen Nazis.

Informiert über den Alltag an einer deutschen Schule ist das Blog auf jeden Fall derart gut, dass man sich kaum vorstellen kann, dass es von einer branchenfremden Person geschrieben wird. Wiederum ist das Blog so gut geschrieben, dass man sich kaum vorstellen kann, dass diese Lehrerin nicht ihr Geld mit Schreiben verdient. Es ist herrlich direkt und bringt alle Emotionen, die in der Lehrkörperschaft so schwelen, aufs Tapet. Diese Geschichte, die von Lehrerinnen handelt, die nachts um 2 Uhr einen Schüler anrufen und, als er verschlafen das Gespräch entgegen nimmt, „Arschlochkind!!! Arschlochkind!!! Arschlochkind!!!“ in den Hörer schreien, ist, wie in den Kommentaren zu erfahren ist, „ab Zeile 44 rein fiktiv“. Trotzdem ist das mindestens einer Leserin schon zu viel:

Arschlochkind?

Vermutlich verstehe ich einfach den Witz nicht, wenn eine Lehrerin ihren Schüler — wenn auch nur fiktiv — ein Arschlochkind nennt.

An anderer Stelle antwortet Frau Freitag auf einen ähnlichen Kommentar wie folgt:

(…) ja, ich bin oft äußerst genervt und frustriert. Ich glaube, das geht allen so, die mit unsererem Schülerklientel arbeitet. Darf ich das nicht sein? Oder darf ich dass nicht in meinem Blog aufschreiben? Darf ich nicht darüber berichten? Was soll ich denn mit meiner Frustration und meinem Genervtsein machen, alles runterschlucken und krank werden?

Ich bin immer noch da. Ich gehe jeden Tag hin und arbeite mit Jugendlichen, bei denen die meisten Leute die Straßenseite wechseln, wenn sie sie nur sehen. Jugendliche, mit denen niemand was zu tun haben will. Und ich will auch mit genau denen arbeiten. Aber es ist eben nicht immer leicht und ja, es ist sehr oft frustrierend. Aber ich mag meinen Job sehr gerne. Soll ich das hier immer wieder aufschreiben?

Und was heißt denn, dass man „ahnen könnte, wie es eigentlich gemeint ist“? Ich meine immer genau das was ich schreibe. Ich komme nach Hause, hatte ein Scheißerlebnis mit einem Schüler, setze mich an den Computer, schreibe es auf und dann geht es mit schon besser. Und wenn ich da sitze, dann meine ich genau das was ich da schreibe. Das einzige, was ich mir vorwerfen könnte ist, dass ich die positiven Dinge, die in der Schule passieren nicht so gerne aufschreibe. Was soll ich hier schreiben, wie toll irgendwas gelaufen ist?

Aber keinen Respekt für meine Schülerinnen und Schüler… diesen Vorwurf finde ich schon fast unverschämt und überhaupt nicht nachvollziehbar. Denn ich respektiere meine Schüler in höchstem Maße! Und das wissen und spüren die auch!

In Berlin fand dieses Wochenende der Karneval der Kulturen statt, der sich grosser Beliebtheit erfreut. Da ist auch nichts dagegen einzuwenden. Doch es ist schon ein sehr grosser Unterschied, der multikulturellen Gesellschaft zwanzig Minuten lang vom Strassenrand aus zu applaudieren und dann wieder nach Hause zu gehen oder am echten Karneval der Kulturen teilzunehmen, wie er täglich in der Schule stattfindet. Der nämlich nicht nur schlecht bezahlt, sondern oft nur nervenaufreibend und anstrengend. Und Nachwuchs ist kaum in Sicht. Von den jungen Lehrern und Lehrerinnen gibt es in Berlin nur noch wenige, wie zu lesen ist, suchen diese eher den Beamtenstatus in den reichen Bundesländern.

Ohne alle Blogbeiträge von Frau Freitag gelesen zu haben, glaube ich, dass sie es hervorragend hinkriegt, Klartext zu schreiben, ohne Grenzen zu überschreiten. Sollte Frau Freitag tatsächlich selbst Lehrerin sein, was anzunehmen ist, so ist ihre Leistung, nämlich ihre Emotionen und täglichen Beobachtungen in Texte zu kanalisieren, nicht nur eine Massnahme zu ihrer eigenen psychischen Gesundheit, sondern ein Verdienst für die Allgemeinheit. Sie spricht aus, was andere nur denken. Sie zeigt auf, wie es in einem von vielen Schulzimmern aussieht. Sie liefert wichtige Texte aus dem Alltag, die man lesen will, weil sie nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam sind. Sie liefert mir ihren subjektiven, ehrlichen Blick, den ich annehmen oder ablehnen kann.

Ich finde, Frau Freitag hat mehr Aufmerksamkeit verdient. Überhaupt haben alle Lehrerinnen und Lehrer, die im schwierigen Dreieck der Ansprüche von Eltern, Kindern und Vorgesetzten einen guten Job machen und dabei auch noch fröhlich bleiben, mehr Aufmerksamkeit verdient.

Na, wie war’s in der Schule? (fraufreitag.wordpress.com)

Nachtrag, 25. Mai: Frau Freitag schreibt einen „Nachtrag zum Bloggeburtstag“:

Ich schreibe nicht anonym! Ich heiße Frau Freitag und BIN Lehrerin!!!! Ich arbeite – Vollzeit – an der Mohamad Atta Oberschule. Ich wundere mich, dass einige Leute schreiben, dass ich vielleicht gar keine Lehrerin sei. Klar, kann niemand wissen. Aber ich sag es hier ja ganz deutlich – ich bin Lehrerin! Immer, überall und Frau Dienstag auch und Frl. Krise sowieso. Und ich denke mir hier so gut wie gar nichts aus. Im Gegenteil, ich beschreibe nur die unverfänglichen Erlebnisse.

Nachtrag, 13. März 2011: Ich hab Frau Freitag ein paar Fragen gestellt.

Elitisten küren Roger de Weck zu ihrem Papst

Eine intransparente Wahl spült Roger de Weck an die Spitze der SRG. Die Klagen über ein politisch links dominiertes Fernsehen und Radio werden jetzt erst recht hochkochen. Zeit für eine Alternative.

Roger de Weck war in den 1990er-Jahren Chefredakteur von „Tages-Anzeiger“ und der „Zeit“, zuvor schrieb er für die (damals noch links ausgerichtete) „Weltwoche“. Seit einigen Jahren zieht er seine Fäden nur noch im Hintergrund, sitzt auf Podien, redet in Fernsehsendungen, schreibt Kolumnen, prangert den Kapitalismus als „Religion“ an. Kurz: Er macht etwa das, was Frank A. Meyer macht, der grosse, alte Löwe unter den Schweizer Salonsozialisten. Nun wird er Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG.

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Roger de Weck (links) mit Medienminister Moritz Leuenberger (Bild: CC Flickr ecumenix)

Nicht Generaldirektor wird der Bürokrat Hans-Peter Rohner. Und auch nicht die fernseherfahrenen Roger Schawinski und Filippo Leutenegger. Schawinski hatte übrigens kein Interesse am Job, denn:

Ein SRG-Generaldirektor hat nur zwei wichtige Aufgaben: Gebühren erhöhen und ihm genehme Direktoren für Radio und Fernsehen portieren.

Generaldirektor wird ein Publizist, ein Journalist. Was tatsächlich erfreulich ist, wenn er denn die Finanzen im Griff hat. Zur Erinnerung: Gesucht wurde eigentlich „in erster Linie eine aussergewöhnlich führungsstarke Persönlichkeit mit breit abgestützter betriebswirtschaftlicher Fachkompetenz; erst in zweiter Priorität stehen Radio-, Fernseh- und Multimediaerfahrung“. Am Rande: Die überraschende Wahl von de Weck hat gezeigt, dass etablierte Journalisten so wenig Ahnung von richtigen Kandidaten haben wie Blogger.

Seit Jahren (seit Jahrzehnten?) gibt es den Vorwurf, das Schweizer Radio und das Schweizer Fernsehen seien eher zu linkskonservativ oder zu linksliberal. Stimmen dagegen, die beklagen, SR und SF seien zu rechtskonservativ oder zu rechtsliberal, sind, extreme Positionen ausgeschlossen, kaum je zu hören (Widerspruch gerne in die Kommentare). Mit Roger de Weck an der Spitze der SRG erhält dieser Vorwurf neue Nahrung. Zurecht, denn de Weck ist nur einer der ungezählten Schweizer Journalisten, die durch ihre rigorose Ablehnung der Opposition den Aufstieg der SVP herbeigeschrieben haben (der Wähleranteil stieg von rund 10 auf rund 29 Prozent), siehe dazu auch den Artikel „Blochermania“ (netzwertig.com, Dezember 2008).

Es ist an der Zeit, dass sich neben der „Weltwoche“ im Printbereich im Audio- und Videobereich eine oder noch besser mehrere Alternativen bilden, jenseits von SVP-TV, Tele Züri oder Alternativradios. Da die Gründung von neuen Radio- und TV-Sendern aber aufgrund der hohen Kosten im kleinen Land und der Überregulierung durch Gesetze kaum oder nicht erfolgsbringend möglich ist, bleibt als Verbreitungsraum das Internet, wo so oder so jedes Medium früher oder später landen wird (nein, sowas wie „Fox News“ stelle ich mir nicht vor).

So teuer ist das nicht. Wer investiert?

Andere Stimmen:

Grosse Überraschung (nzz.ch, Rainer Stadler)
Ein Journalist an der Spitze der SRG (sautter.fm, Alexander Sautter)
SRG: Habemus papam! (medienspiegel.ch, Diskussion)
Wahl des neuen SRG-Chefs spaltet Parteien (sf.tv, inklusive Videos)
Roger de Weck als Deus ex Machina (klartext.ch, Nick Lüthi)
Roger de Weck – weil er Konvergenz und Sparübungen besser verkaufen kann? (wahlkampfblog.ch, Mark Balsiger)
Ultra-Etatist wird neuer Führer des staatlichen Rundfunks (arslibertatis.com, Benjamin Bläsi)
Reaktionen auf die Wahl des neuen Generaldirektors
(persoenlich.com)
Interview mit Roger Schawinski, der mit de Weck befreundet ist (tagesanzeiger.ch, Markus Diem Meier)
Hoffnung und Skepsis nach de Wecks Wahl (klartext.ch, Zusammenstellung von Zitaten)
Griechische Verhältnisse (weltwoche.ch, Kurt W. Zimmermann)
Eine fiktive Antrittsrede in Originalzitaten (weltwoche.ch, Alex Baur)
An- und Einsichten des Roger de Weck (weltwoche.ch, Alex Baur)
Politisch motivierter Überzeugungstäter (weltwoche.ch, Roger Köppel)

Journalist