Schlagwort-Archive: Krebs

„Ich höre die Leute schon reden“

Zum Tod von Christoph Schlingensief am 21. August 2010.

Ich höre die Leute schon reden. Der wilde Schlingensief, der Provokateur, das Enfant terrible … natürlich wahnsinniger Überlebenswille … wahnsinnige Anstrenungen … hat bis zum letzten Atemzug gekämpft … am Ende dann doch in der Klinik soundso …

Christoph Schlingensief, “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung”, Seite 49

Ich dachte, dass ich im Kern beschützt sei. Von Gottes Gnaden behütet, belohnt mit Tausenden von Möglichkeiten, gesegnet mit einem langen Leben, mit vielen, vielen Dingen, Bildern, Fragen, Antworten, Fragen, die sich aus Antworten ergeben. Und in den letzten Tagen hab ich echt geglaubt, ich bekäme jetzt die grosse Chance zu beweisen, dass ich ein ernsthaftes Anliegen habe, dass ich in der Welt noch Wichtiges zu tun habe – und auch, dass ich die Möglichkeit bekäme, das Leben jetzt wirklich geniessen zu lernen. Habe mir eingebildet, dass ich noch viele, viele tolle Momente erleben werde, mit Essen und Trinken, Natur und Musik, Liebe und Sex.

Und das, lieber Gott, ist die grösste Enttäuschung. Dass du ein Glückskind einfach so zertrittst, du bist jedenfalls gerade dabei, das zu tun. Und alle die anderen Leute, die an dich glauben, zertrittst du auch, zum Beispiel die, die nach Lourdes laufen und dennoch nicht geheilt werden.

Pure Ignoranz ist das. (…)

Christoph Schlingensief, “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung”, Seite 51

Christoph Schlingensief über die Medien

In seinem Buch “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ (erschienen im April 2009), dem „Tagebuch einer Krebserkrankung”, schreibt Theaterregisseur Christoph Schlingensief auch über die Medien (auf den Seiten 108 bis 110 und 120). Ich möchte das gerne einfach mal unkommentiert zitieren.

Fernsehen:

Habe versucht, noch ein bisschen fernzusehen, aber das geht gerade nicht. Ich halte dieses Medium, das so klug tut, sich zu Gott und der Welt äussert und uns alle im Griff hat, nicht mehr aus. Nicht, weil sie da von einem unbeschwerten Leben sprechen, gönn dir was, kauf dir ein neues Auto und deinen Kindern Schokolade oder sonst irgendwas. Auch nicht, weil ich die Sachen niveaulos finde – ich lache gerne über Blödsinn. Aber ich kann den Fernseher nicht mehr einschalten. Das ist ein Medium, das mir im Moment völlig fremd ist, weil da wie in einer Endlosschleife immer dasselbe geredet wird. Da kann man reinschalten und wie nach einer Betäubung ohne Probleme an den Satz anschliessen, der vor der Betäubung gesprochen wurde. Das haben mir die Anästhesisten hier erklärt. Man kann sich heutzutage einschläfern lassen, dabei irgendwas reden, und wenn man aufwacht, redet man einfach weiter, die Sätze passen aneinander. Der Mensch ist gar nicht weg gewesen, er wurde einfach nur kurz in seiner Zeit unterbrochen.

Zeitungen:

Zeitungen will ich auch nicht mehr lesen. Da steht das Geblubber von armen kleinen Menschen, die schreiben, weil sie schreiben wollen und im besten Fall auch können. Meist schreiben sie das, was der Chef will, vielleicht dürfen sie auch mal ausbüchsen, aber bitte nicht zu viel. Dann liefern sie etwas ab, was in dem Moment, wo es auf die Welt kommt, schon verschwindet. Wenn sie Glück haben, ruft mal irgendjemand an und beschwert sich, oder ein Freund sagt, habe deinen Artikel gelesen, fand ich sehr spannend. Und das war’s.

Dieses Argument, dass das morgen schon tot ist, zählt natürlich nicht. Ich weiss. Ich kann mir auch vorstellen, dass man jetzt denkt: Ja, typisch, der Schlingensief meint wohl, er schreibt einen Artikel und die Politik fällt tot um. Das meine ich nicht. Ich meine nur, dass man die Dinge in Relation sehen muss. Irgendein Artikel wird gedruckt, gammelt abends schon irgendwo in einem Lokal herum, und der Einzige, der ihn zur Kenntnis nimmt und ausflippt, ist der Sänger, der lesen muss, dass er nicht gut war, oder der Regisseur, der wieder mal lesen muss, dass das alles total unschlüssig war.

Diskussionskultur:

Ja, stimmt schon, eigentlich beschreibe ich mich selbst, ich bin selbst oft genug ausgeflippt, habe oft genug die Relation nicht beachtet. Aber egal, ich will das nicht mehr, das ist doch komplett bescheuert. Gibt doch genug Menschen, die keine Möglichkeit haben, sich lautstark zur Welt zu äussern, weder als Künstlerarsch noch als Kritikerdepp. Man kann doch wahrscheinlich auch gut ohne all das leben, vielleicht sogar noch besser leben.

Und deshalb möchte ich mich damit nicht mehr konfrontieren. Den sozialen Aspekt in meiner Arbeit hat man mir sowieso meist weggeschrieben, weil man sich in Deutschland nichts mehr traut. Weil man meint, sobald jemand etwas anderes denkt, sei er schon ein Provokateur oder so. Das sind die Methoden, um hier alles plattzumachen. Das ist ein grauenhafter Haufen. Ich merke gerade, dass ich sogar Angst davor habe, mich damit zu beschäftigen, weil sie einfach Gemeinheitsfabriken sind, diese Feuilletons und Talkshows. Überall sieht man Leute, die permanent Stellung beziehen zu irgendwas und ihr Kleidchen durch die Lüfte werfen. Dabei ist keiner informiert, was der andere vorhat. Und keiner weiss wenigstens ungefähr, um welches Thema es geht und wie man darüber nachdenken könnte. Es geht nur darum, so zu tun, als würde man über etwas nachdenken. So zu tun, als hätte man sich schon masslos mit einer Sache beschäftigt. (…)

Boulevardzeitungen:

Ich habe heute auch erfahren, dass meine Sache hier wohl schon vorgestern in der Öffentlichkeit ausposaunt wurde. Dass ich Lungenkrebs habe, dass ich einen brutalen Eingriff von fünf Stunden hinter mir habe, dass ich echt kämpfe und dass die Zukunft mit Fragezeichen gespickt ist, das quasselt irgend so ein Dödel in der Kneipe rum. Dann kommen diese Kletten mit dem Block, der Idiot fängt an zu labern, und am nächsten Tag steht in einer blöden Boulevardzeitung: Schlingensief schwer erkrankt. Dödel macht sich grosse Sorgen.

Warum kann man mir jetzt nicht einfach mal diese Krankheit überlassen? Warum muss da irgendwer, den ich seit Jahren nicht mehr gesprochen habe, überall erzählen, er mache sich grosse Sorgen? Warum kann ich nicht selbst bestimmen, wann und wie ich das mitteile?