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“Qualitätsjournalismus” mit Newsnetz (9)

tagesanzeiger.ch ScreenshotBild: Screenshot tagesanzeiger.ch

Als ich im 13. Oktober 2008 den Artikel „Tamedia: Vom Seriös- zum Boulevard-Verlag“ publizierte, entgegnete mir von vielen Seiten Kopfschütteln. Das sei eine übertriebene Zuspitzung, unfair, nicht angebracht, und so weiter. Am gleichen Tag veröffentlichte der Branchendienst persoenlich.com ein Interview mit dem neuen Leiter des Newsnetz, Peter Wälty. Er sagte damals über die Zeitung, die einem zuerst einfällt, wenn man an Tamedia denkt:

„Wir werden niemals in Versuchung geraten, einen Tages-Anzeiger zu trivialisieren“

Na gut, aber dann soll mir doch bitte mal jemand erklären, wieso Rico Bandle, der Leiter des Kulturressorts der Online-Präsenz des Tages-Anzeigers, also sowas wie der Leiter des Feuilletons, sich mit einer Handkamera in die Klinik Hirslanden einschleicht und versucht, ein Foto der Zwillinge des Tennisspielers Roger Federer zu knipsen. Im Bericht vom 27. Juli 2009 heisst es:

Noch nie war die Gelegenheit so günstig, der Welt ein schönes Föteli, dem Arbeitgeber mit dem Verkauf des Bildes ein gutes Sackgeld und sich selbst einen Fensterplatz am Paparazzi-Himmel zu schenken.

Liebe Kopfschüttler, was jetzt? Ist es in Ordnung, dass der „Kulturchef“ im Namen des Tages-Anzeigers die Privatsphäre von Roger und Mirka Federer missachtet? Wenn Menschen wegen Babyfotos unerwünscht von Reportern nachgestellt wird – was anderes ist das als Boulevard? Gibt es eigentlich noch jemanden, der glaubt, die vormals seriöse Marke Tages-Anzeiger sei noch nicht trivialisiert? Wenn ja, bitte vortreten. So jemanden würde ich gerne kennenlernen.

Nach eigener Aussage ist Newsnetz, der Online-Auftritt von Schweizer Tageszeitungen wie Tages-Anzeiger, Bund, Berner Zeitung oder Basler Zeitung „der schnellste Qualitätsjournalismus im Netz“.

Altpapier

Die schlechten Nachrichten aus der Schweizer Medienbranche reißen nicht ab. Seit Monaten grassiert der Stellenabbau. Besonders bei den Zeitungen schlägt die Krise durch.

Gemäss den “World Press Trends” des Weltverbands der Zeitungen (wan-press.org) hat Deutschland auf eine Million erwachsene Leser 5.2 täglich erscheinende Bezahltitel aufzuweisen. Die Schweiz hingegen, allen im Land um sich greifenden Gratiszeitungen zum Trotz: 78.2. Das mag an der Mehrsprachigkeit des Landes liegen, doch der nur noch von San Marino getoppte Platz 2 dieser Weltrangliste deutet schon auf eine aussergewöhnliche Pressevielfalt hin.

Die Krise trifft 2009 auch die Schweiz, jeden Monat dringen neue Meldungen durch. Im Januar kündigt die “NZZ” die Entlassung von 29 Mitarbeitern an, die “Basler Zeitung” streicht 22 Stellen. Im März schluckt die Tamedia den Westschweizer Verlag Edipresse – dem Deal fallen 20 Stellen zum Opfer. “Cash” wird eingestellt: 23 Stellen. Im Mai trifft es dann auch die Gratiszeitung “.ch”: 61 Stellen sind weg. Die “Neue Luzerner Zeitung”: 20 Stellen. Der Berner “Bund”: 19 Stellen. Der “Tages-Anzeiger”: 57 Stellen.

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Tamedia/Newsnetz:
„Boulevardsau“ rausgelassen

Tamedia setzt mit dem Newsnetz neue Qualitätsmassstäbe beim Online-Journalismus – im unteren Bereich der Skala.

Im August 2008 übergaben Tages-Anzeiger, Berner Zeitung und Basler Zeitung, später auch der Bund und die Thurgauer Zeitung, ihre bisherigen Websites dem Newsnetz, einer neuen Online-Zentralredaktion in Zürich mit Regionalredaktionen in Basel und Bern. Zuvor bestanden ihre Websites aus abgefüllten Zeitungsinhalten, die mit aktuellen Agenturmeldungen angereichert wurden, sowie nicht-journalistischen Service-Rubriken.

Das neue Projekt war merklich grösser dimensioniert und wurde angekündigt als das “bisher ambitiöseste journalistische Projekt im Internet”. Im Begrüssungstext hiess es: “Die Zeiten, in denen Onlinejournalismus in der Schweiz im Copy-Paste-Verfahren betrieben wurde, sind vorbei. Heute weiss man: Qualität hat ihren Preis.” Auch auf newsnetz.ch steht dieser Anspruch ungebrochen: “Newsnetz: Der schnellste Qualitätsjournalismus im Netz!”

Doch tatsächlich haben viele Aktivitäten des Newsnetz nichts mit Qualitätsjournalismus zu tun: “Schwangere Brasilianerin von Schweizer Neonazis schwer misshandelt”, hiess es zum Beispiel am 11. Februar 2009. Eine Schlagzeile, von der sich nur das Wort “Brasilianerin” als wahr herausgestellt hat. Von Zweifeln war noch in der gleichen Story zu lesen. Tagesanzeiger.ch schrieb am Ende des kurzen Artikels diesen abstrusen Satz, Tippfehler inklusive: “In brasilianischen medien wurde auch berichtet, der Polizsit, der als erste am Tatort gewesen sei und den Fall behandelt habe gegenüber dem Opfer und ihrem Freund Zweifel an den Schilderungen geäussert.”

Inzwischen sind solche Schludrigkeiten nur noch per Screenshot beweisbar, denn das Newsnetz schreibt laufend Artikel um, ohne die Veränderungen zu dokumentieren.

screenshot-tagesanzeigerch-2009-02-111
Bild: Screenshot tagesanzeiger.ch

Tamedia/Newsnetz:
„Boulevardsau“ rausgelassen
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