Die Ameisen existieren seit über 10 Millionen Generationen auf dieser Erde; uns dagegen gibt es erst seit 100000 Generationen. Sie haben sich in den letzten zwei Millionen Jahren so gut wie gar nicht weiterentwickelt, während wir in dieser Zeit die komplexeste und rasanteste Gehirnentwicklung in der ganzen Entwicklungsgeschichte durchgemacht haben. Über mehrere Jahrhunderte hinweg hat unsere kulturelle Entwicklung mit noch raketenhafterer Geschwindigkeit weitere Veränderungen herbeigeführt und dabei die Rate der biologischen Evolution um mehrere Grössenordnungen übertroffen. Wir sind die erste Art, die globalen Einfluss ausübt, das Ökosystem verändert und zerstört und selbst das Klima weltweit beeinflusst. Das Leben auf dieser Erde würde nie durch die Aktivitäten der Ameisen oder anderer wild lebender Tiere bedroht werden, egal, wie vorherrschend sie würden. Die Menschheit dagegen ist dabei, einen Grossteil der Biomasse und Artenvielfalt zu zerstören; ausgerechnet an dieser “Erfolgsrate” misst sich unsere eigene biologische Vorrangstellung.
Wenn die ganze Menschheit von der Bildfläche verschwände, würde sich der Rest, der überlebt hat, erholen und aufblühen. Das massenhafte Aussterben, wie es im Moment stattfindet, würde aufhören, und die geschädigten Ökosysteme würden sich erholen und wieder ausdehnen. Wenn alle Ameisen verschwinden würden, wäre der Effekt genau umgekehrt, und es gäbe eine Katastrophe. Der Artenschwund würde sich noch mehr beschleunigen, und die Landökosystem würden noch schneller zusammenschrumpfen, wenn die beträchtlichen ökologischen Funktionen, die diese Insekten erfüllen, wegfielen.
Die Menschheit wird ohne Frage weiterleben, genauso wie die Ameisen. Aber das Verhalten des modernen Menschen führt zu einer Verarmung der Welt; wir sind dabei, unglaublich viele Tierarten auszulöschen, und zerstören damit nachhaltig die Lebensqualität auf unserer Erde. Dieser Schaden lässt sich im Laufe der Evolution nur in Zeiträumen von mehreren Millionen Jahren wieder ganz beheben, und auch nur dann, wenn sich die Ökosysteme regenerieren können. In der Zwischenzeit sollten wir die niederen Ameisen nicht verachten, sondern uns ein Beispiel an ihnen nehmen. Zumindest noch für einige Zeit werden sie uns helfen, die Welt nach unseren Bedürfnissen im Gleichgewicht zu halten, und sie werden uns stets daran erinnern, wie schön diese Welt war, als die ersten Menschen auftauchten.
Ameisen, die Entdeckung einer faszinierenden Welt, Bert Hölldobler, Edward O. Wilson, Seite 239/240.
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