Als ich im Sommer 2002 erstmals in einem Weblog las, wusste ich nicht, was ein Weblog ist. Mit irgendeiner Suchanfrage stiess ich auf das Blog eines noch nicht zwanzigjährigen Schülers aus Bayern, der fast täglich neue Texte, Bilder und Links bereitstellte. Weil das Lesen Spass machte, hatte ich bald alle Monate, in denen er bisher geschrieben hatte, durchgelesen und stiess durch die bereitgestellten Links auf andere, neue, spannende Seiten, die ich alleine wohl nie gefunden hätte.
Im August entdeckte ich dann einen Ameisenhaufen. Antville.org hiess die Website, auf deren Unterseiten die verschiedensten Leute ihre Blogs führten. Ohne lange nachzudenken, eröffnete ich bald auch ein Blog – weil es so einfach war. Eine eigene Homepage einzurichten lag ja schon immer ausserhalb meiner Möglichkeiten, da es mir nicht nur an HTML-Kenntnissen fehlte, sondern auch, weil ich einen Server weder bezahlen noch einrichten wollte.
Bild: Screenshot des Artikels „Jeder ein Chefredaktor“ im NZZ Folio.
Nun war ich der Boss. Chefredaktor und Herausgeber meines eigenen Mediums. Ausser den geltenden Gesetzen niemandem unterworfen. Kosten? Keine. Einnahmen? Auch keine. Unerwünschte Kommentare? (In meinem Blog) jederzeit löschbar. Das publizistische Konzept? Gab es keines. Ich schrieb anonym und war weder Kunden noch Investoren verpflichtet. Ich veröffentlichte dann, wann ich wollte und schrieb über das, was ich wollte. Redigatur und Korrektur waren mir Fremdwörter; vor mir lag nur ein Eingabefeld, das eine unbeschränkte Anzahl Buchstaben aufnahm, so wie ein grosses, noch unbeschriebenes Buch.
Schon am zweiten Tag, in meinem dritten Beitrag, schrieb ich: “so einen weblog zu führen, mag ja vielen zielen dienen, doch vor allem einem: der befriedigung der eigenen eitelkeit. man möchte, dass andere menschen zuhören, lesen, anteil nehmen, mit einem lächeln nicken, sich über einen link tierisch freuen, kurzum, den schreiber cool finden.” Genau so schrieb ich das, in Kleinschrift, denn ich konnte es mir leisten, die Unterscheidung von Klein- und Grossschreibung zu ignorieren (ich fand damals Kleinschreibung “moderner und schöner”). Es gab niemanden, dem ich Rechenschaft schuldig war, noch nicht mal einen Leser.
Doch die Leser kamen dann plötzlich, überraschend. Es wurden Kommentare abgegeben zu meinen Beiträgen, Hinweise gesetzt auf anderen Websites. Mehr noch als Schreiber war ich als Leser aktiv. Ich fand mich wieder in den Gedankenströmen von allerlei Leuten, mit denen ich nie und nimmer in Kontakt gekommen wäre. Las Texte, die niemand abgedruckt hätte. Geriet auf Websites, an deren Existenz ich nicht mal gedacht hätte. Neue Interessensgebiete öffneten sich. Design, Architektur, Fotografie, Kunst – damit hatte ich bis dahin gar nicht viel zu tun gehabt.
Mit Interesse verfolgte ich den dokumentierten ersten Besuch eines Bloggers und seiner Frau in einem Swingerclub. Wartete auf die neuen Bilder des Hobbyfotografen, die so gut waren, dass ich jederzeit eine Ausstellung besucht hätte. Fühlte mich ein in präzis beschriebene gesundheitliche Probleme. Lachte über Blogger, die wegen Nichtigkeiten aneinandergeraten waren. Beteiligte mich an Debatten. Ich las und lernte.
Nach einiger Zeit verfolgte ich etwa so viele Blogs, wie ich selbst Leser hatte, vielleicht fünfzig. Ich studierte oder überflog Einträge von Journalisten, Ärzten, Studenten, Informatikern, Schriftstellern, Hausfrauen, die alle eines verband: Die Freude am Erstellen und Teilen von Inhalten. Wobei niemand so genau wusste, wer wen kannte – schliesslich las jeder anonym mit und erst ein Kommentar gab Aufschluss darüber, wer mitlas.
Die Hürde, um einzutreten, war nicht mehr als ein Nickname und eine E-Mail-Adresse. Und doch kannte ich bald Namen, Gesichter, Städte, Freunde, Liebhaber, Gesinnungen, Hobbys, Talente. Es überraschte mich, wie mir fremde Leute aus anderen Ländern zu sowas wie guten Freunden wurden. Die Interaktion geschah durch die Inhalte – ein stiller Transfer von der einen zur anderen Person am Computer. Anders als bei Journalismus und bei Literatur nicht um Wochen und Jahre verzögert, sondern beinahe sofort.
Ich kaufte mir Bücher und elektronische Geräte. Sah Filme und kaufte Zeitschriften. Guckte Fernsehsendungen und las neue Blogs. Bestellte Schuhe. Warum? Weil sie mir von geschätzten Bloggern empfohlen wurden, von denen ich wusste, dass sie Stil und Geschmack hatten (ich verfolgte doch ihre Äusserungen schon über Monate Tag für Tag). Im Gegensatz zur Werbung und zu redaktionellen Empfehlungen machten mir diese doch zumeist anonymen Hinweise einen persönlicheren Eindruck.
Live lernte ich Blogger erst viel später kennen. Sie waren, und das überraschte mich anfangs, meist genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Die geliebten Blogs wurden von mir sympathischen Menschen verfasst, die ungeliebten von solchen, die ich nicht mochte. Blogger, die online nur da und dort einen schüchternen Kommentar abgaben, taten das auch in der geselligen Runde so. Wie der Redefluss von Bloggern, die zu jedem Eintrag ihren Senf hinzugaben, kaum zu stoppen war.
Die neue Beschäftigung evozierte neue Gefühle der Verbundenheit. Vor genau fünf Jahren, am 03.06.2003, schrieb ich: “jemanden von der linkliste entfernen ist eine entscheidung wie die entscheidung, jemandem dieses jahr keine weihnachtskarte mehr zu schreiben – eine zu treffen unmögliche.” Etwas absurd, so aus der Distanz betrachtet, doch mit der Linkliste, auch Blogroll genannt, legen viele Blogger ihren Lesern andere Blogs ans Herz. Es sind ernstgemeinte Empfehlungen anderer publizistischer Angebote; eine Aktion, die kommerziell orientierte Unternehmungen, ängstlich, die Konkurrenz zu stärken, nur im Notfall ausüben.
Es gab aber auch andere Arten, mehr über Besucher herauszufinden: Tracking-Tools. Detailiert wird dort der einzelne Weblog-Leser ausgewiesen. IP-Nummer, Uhrzeit des Besuchs, Provider, Stadt, Land, benutzter Browser – das alles kann statistisch festgehalten und in den verschiedensten Formen begutachtet werden. Was bei mir schnell Einzug in den Alltag fand. Ich wollte wissen, welcher Eintrag gut ankam. Zu welcher Uhrzeit die besten Chancen bestanden, auf viele Leser zu stossen. Und abends im Bett fragte ich mich, wer das bloss war, der fast täglich in Spanien mein Weblog aufsuchte.
Anders als Roger Schawinski, der als ehemaliger Senderchef von Sat.1 jeden Morgen den Einschaltquoten entgegenfieberte, muss ein Blogger nie auf Zahlen warten. Sie sind jederzeit verfügbar. Und es kann aufregend sein, mitzuverfolgen , wie sich die gewohnten Besucherzahlen plötzlich verzehnfachen, nur weil ein unerwarteter Link eines viel gelesenen Blogs neue Leser anspült.
Viele Blogger, vor allem Bloggerinnen, kümmern Besucherzahlen aber überhaupt nicht. Sie schreiben, um Freunde und Verwandten über ihre Asienreise auf dem Laufenden zu halten. Weil sie die Freude an einem Hobby mit anderen teilen möchten, sei es das Schneidern von Kleidern, die Fotografie oder der Golfsport. Weil sie etwas zu schreiben haben. Charles Bukowski schrieb: „Ich brauchte das Schreiben als Ventil, als Unterhaltung, als Befreiung. Als Sicherheit. Ich brauchte sogar die verdammte Arbeit, die es mir machte.“
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Weblogs
Schon Goethe riet seiner Schwester: „Schreibe nur, wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben.“ Und so machen es viele, die im Internet die Möglichkeit entdeckt haben, kostenlos ein Weblog (Internet-Logbuch, kurz: Blog) zu führen. Sie schreiben Briefe, die an alle und an niemanden gerichtet sind. Briefe, die nicht aufsässig sind, denn es muss sie niemand lesen. Sie müssen weder aufgerissen noch entsorgt werden; bei Interesse sind aber jederzeit verfügbar. Die unbestellten Veröffentlichungen im Internet polarisieren aber dennoch. Während einige bald Suchttendenzen aufzeigen, sobald sie mit bloggen begonnen haben, ist es anderen nicht egal, dass sich Leute anmassen, Banalitäten ins Internet stellen.
Ein Weblog zu definieren ist gar nicht so einfach. Zumeist ist es in einzelne Beiträge gegliedert, deren aktuellster jeweils zuoberst steht und dann mit neuen Beiträgen gegen unten verschwindet. Was drin steht und wie es gestaltet ist, ob es eine Kommentarmöglichkeit aufweist, ob Links zu anderen bestehen, ob es alleine geführt wird oder im Verbund – das liegt alles in der Verantwortung des Bloggers (dem Herausgeber und Chefredaktor eines Blogs). Betrieben wird es entweder auf einer eigenen Domain (https://blog.ronniegrob.com) oder auf der eines Anbieters (http://ronniegrob.wordpress.com). Wer letzteres wählt, kann nach zwei Minuten losbloggen – die Eröffnung eines Blogs ist so simpel wie das Einrichten einer E-Mail-Adresse.
Gebloggt wird aus den verschiedensten Gründen: Aus Freude am Schreiben, um Geld zu verdienen, um seine Freunde auf dem Laufenden zu halten, als PR in eigener Sache, um als Organisation nach aussen zu kommunizieren. Ein Blog kann alles mögliche sein und es ist gut möglich, dass der Begriff so rasch, wie er aufgekommen ist, auch wieder verschwindet. Die Tätigkeit an sich wird sowohl unter- als auch überschätzt. Schon ein kurzer Beitrag kann eine PR-Katastrophe oder einen Imagegewinn auslösen. Oder die Abmahnung eines Anwalts. Wiederum sind viele Blogger schon jahrelang aktiv, ohne dass davon eine grössere Gruppe Notiz nehmen würde.
Eines der ältesten noch immer existierenden Blogs ist “Scripting News” von Dave Winer, das am 01.04.1997 mit einem Beitrag startete, der 99 Wörter und zwölf Links umfasste. Es wurde im vergangenen halben Jahr von etwa 2300 anderen Websites verlinkt und gehört darum in die Gruppe der 500 einflussreichsten Blogs. Rund zehn mal so viele Links zählt der Linkzähldienst Technorati für die “Huffington Post”, ein 2005 gegründetes politisches Gemeinschaftsblog, das zurzeit die Liste anführt und in kurzer Zeit zu einem wichtigen Meinungsmacher geworden ist.
Anders als in der USA, wo Blogger zu Pressekonferenzen eingeladen werden, ist die Schweiz noch immer mehr oder weniger ein Entwicklungsland. Mit einigen prominenten Bloggern wie Bundesrat Moritz Leuenberger, TV-Moderator Kurt Aeschbacher, Politikwissenschaftler Claude Longchamp, PR-Berater Klaus J. Stöhlker. Sogar Christoph Blocher, der keinen Computer bedienen kann oder will, gibt wöchentlich in einem Videoblog erscheinende Interviews.
Diese beiden Texte erschienen in redigierter Form im NZZ Folio vom 02.06.2008, das sich in der Juni-Ausgabe der Suche nach „Perlen aus dem Internet“ verschrieben hat.
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