Nahezu kostenlose Produktionsmittel sowie eine wachsende Transparenz im Internet beflügeln Demokratie und Wettbewerb. Die Expertokratie sieht sich gegenüber einer den Umgang mit Inhalten revolutionierenden “Weisheit der Vielen”.
“Everyone should have a blog. It’s the most democratic thing ever.”
Jessica Cutler, Bloggerin
Das Internet hat unser Leben in den letzten Jahren verändert wie keine andere Erfindung. Die online verbrachte Zeit steigt ständig an, am Bürotisch, am heimischen Schreibtisch und unterwegs, am Laptop und mit dem Mobiltelefon. Es vernichtet laufend Arbeitsplätze und schafft neue hinzu. Endlos ist die Liste der Branchen, die ihre Kunden ins Internet abwandern sehen. Vor allem betroffen sind Dienstleistungsbranchen, die sich als Vermittler und Berater zwischen das Produkt und den Kunden gestellt haben: Reisebüros, Buchläden, CD-Läden schliessen reihenweise wegen Kundenmangel. Längerfristig betroffen sind, kurz gesagt, alle, die etwas anbieten, das es im Internet günstiger oder gar gratis gibt.
Stark betroffen vom Wandel sind auch die Anbieter von Information, also die Medienbranche. Vor allem westliche Zeitungen kämpfen gegen den durch den Einbruch der Leserzahlen generierten Bedeutungsverlust. Grund des Einbruchs sind technische Neuerungen, welche die bisherigen Monopole zerstören.
Demokratisierte Produktionsmittel
In einem ersten Schritt geschah das durch die Demokratisierung der Produktionsmittel, also durch das Aufkommen von Digitalkameras, Weblogs, Podcasts. In einem zweiten Schritt durch die Demokratisierung der Publikationsmittel, also durch kostenloses Hochladen von Fotos, Videos, Texten bei Portalen wie Flickr (Fotos) oder YouTube (Videos), durch Bloghoster wie WordPress. Diese neuen Medien sind nicht am TV, am Kiosk oder am Radio zu finden, aber sie sind im Internet. Jeder, der will, kann dort Fotograf, Filmer, Schreiber, Radiomensch sein.
Die von Karl Marx geforderte Revolution des Proletariats, das Privateigentum an Produktionsmitteln aufzuheben, scheint im Internet auf den ersten Blick bereits heute nahezu verwirklicht. Nur noch wenige Software ist nicht frei verfügbar, ausschliessliche Bezahlmodelle haben sich kaum durchgesetzt. Die meisten der neuen Web-Angebote liefern die Grundleistung frei; bezahlt werden Zusatzfunktionen, den Rest finanziert die Werbung.
Auf den zweiten Blick wird klar, dass dem Nutzer die Publikations-Werkzeuge und der Lagerplatz für die erstellten Daten nur geliehen werden, denn alle produzierten Daten gehören im Zweifelsfall dem, der den Speicherplatz zur Verfügung stellt (viele Nutzer akzeptieren allgemeine Geschäftsbedingungen ungelesen). Doch auch diese Einwände könnten von technischen Neuerungen weggespült werden. Oder sind es bereits für alle, die auf ihren eigenen Servern publizieren.
Die grunddemokratischen Züge einzelner Webprojekte sind nicht jedoch nicht zu übersehen. Ein englischer Fussballverein wurde 2008 von über 21.000 Internetnutzern aus 70 verschiedenen Ländern für 600.000 englische Pfund aufgekauft. Die auf myfootballclub.co.uk organisierten Nutzer zahlten je 35 Pfund ein und besitzen nun 75% von Ebbsfleet United, deren erste Mannschaft in der fünften englischen Liga spielt. Die neuen Teilhaber nehmen Einfluss auf die Aufstellung, die Transfers, alle wichtigen Entscheidungen. Da nun plötzlich eine Menge Geld bereitsteht für Spielerkäufe, müsste der Aufstieg in die nächst höhere Liga nur eine Frage der Zeit sein.
Das ist nur ein Beispiel von vielen und ob der Wunsch, den vom Geld von Einzelpersonen abhängigen Profifussball zu verändern, in Erfüllung gehen oder im Chaos enden wird, ist ungewiss. Man wusste auch nichts über die Erfolgschancen der 1998 gegründeten Suchmaschine Google, des nutzergenerierten Online-Lexikons Wikipedia 2001, des Videoportals Youtube 2005. Doch diese Websites haben es geschafft, sich in die nur schwer zu knackenden Gewohnheiten der trägen Menschheit einzugliedern. Nicht bei allen, aber doch bei vielen.
Die “Weisheit der Vielen”
In der Frage, wie die Ware Information erstellt werden soll, haben sich zwei Fronten herauskristallisiert. Die einen sind die, die in die Weisheit der Vielen vertrauen: Sie glauben, dass sich die Inhalte in einem offenen Veränderungsprozess herausstellen. “Die Weisheit der Vielen”, im Original “The Wisdom of Crowds”, ist ein 2004 erschienenes Buch von James Surowiecki, Journalist beim “New Yorker”. Darin wird dargelegt, warum Gruppen Probleme effektiver lösen als Einzelne. In der Vorbemerkung zum Buch heisst es darum: “Die Menge entscheidet intelligenter und effizienter als der klügste Einzelne in ihren Reihen. Experten und Meinungsführer sind demnach Auslaufmodelle. Vorausgesetzt, die Gruppe ist gross und vielfältig, weiss, dass ihre Meinung zählt, und jeder Einzelne in der Gruppe denkt und handelt unabhängig.”
Die anderen sind die Elitisten: Sie glauben, eine gut gebildete Elite (zu der sie in der Regel gehören) soll als Torwächter entscheiden, welche Inhalte auf das Volk losgelassen werden können. Konkret wird entschieden, ob ein Text so in der Zeitung gedruckt werden kann. Ob die Bürger erfahren dürfen, was Nationalrat X “off the record” gesagt hat. Wie Ergebnisse von Recherchen aufbereitet werden. Da viele Inhalte nur entstehen können durch gegenseitige Rücksichtnahme, ist die Gefahr von Interessenskonflikten gross.
Die Elitisten weisen darauf hin, dass Inhalte, die lesenswert, verlässlich und verantwortungsbewusst sind, nicht einfach so entstehen, sondern dass diese bezahlt werden müssen. Die Frage, wie Inhalte finanziert werden im Internet, ist tatsächlich alles andere als abschliessend geklärt. Doch auch die bisher funktionierenden journalistischen Modelle sind in Bedrängnis geraten – die etablierten Medienangebote werden mit jeder Sparrunde an Qualität einbüssen.
Es gibt einen grossen Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen. Der Elitist sagt über seinen Inhalt, zurecht, er habe ihn mit Fleiss erstellt, unter Ausschöpfung seiner Intelligenz und Ausbildung. Zudem habe er die wichtigsten Leute befragt, die wichtigsten Quellen ausgeschöpft. Kurzum, er habe ihn nach bestem Wissen und Gewissen erstellt. Mit der Abgabe des Inhalts sieht er seine Verantwortung wahrgenommen, den Prozess abgeschlossen.
Doch an diesem Punkt fängt die Geschichte für jene, die an die Weisheit der Vielen glauben, erst an, spannend zu werden. Rund um den erstellten Inhalt bildet sich im Internet nämlich sofort ein Spektrum von Möglichkeiten – er wird je nach dem modifiziert, bewertet, kommentiert, zitiert oder verlinkt. Entweder direkt am Ausgangspunkt oder auf anderen Websites, die ihn per RSS-Feed bei sich aufnehmen. Diese Aktionen haben einen Einfluss auf die Resonanz – wird er überhaupt aufgefunden oder wandert er wieder in den Orkus? Ob er den Nutzer erreicht, hängt davon ab, welchen Filter von diesem angewendet wird. Da jeder Inhalt mit der Erstellung in der Regel auch archiviert ist, kann das auch nach Jahren noch erfolgen.
Jeff Jarvis, Professor an der Graduate School of Journalism, sagt es so: „My readers know more than I do“. Durch die Rückmeldungen aus dem Internet hat der Inhalt die Möglichkeit, zu wachsen und so an Qualität zu gewinnen. Wer einen Artikel bei Wikipedia einstellt, kann erleben, wie das ganz ohne eigenes Zutun geschieht und möglicherweise gegen den eigenen Willen. Im besten Fall aber profitiert der Inhalt von Einwänden und Vorschlägen, die ohne dieses weltumspannende Netz, bei dem jeder vor seinem Terminal sitzt und dort seinen Beitrag leistet, wo es ihm sinnvoll erscheint, niemals möglich gewesen wären. Wer schon mal im Team gearbeitet hat, weiss, dass zu viele Köche den Brei verderben können. Sie können ihn aber auch besser machen. Oft geht es nur darum, dass man etwas lernt aus den Rückmeldungen. Und es das nächste Mal besser machen kann.
Wettbewerb und Demokratie
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Internet mehr Wettbewerb und mehr Demokratie mit sich bringt. Mehr Wettbewerb darum, weil es trotz dem Verschwinden einiger Marken mehr Produzenten gibt (die um weniger Gelder kämpfen). Zudem kann und wird alles bis ins kleinste Detail ausgemessen (was ökonomische Folgen mit sich bringt). Mehr Demokratie darum, weil alle ihren Einfluss geltend machen können, unabhängig von Herkunft, Kontostand, Beziehungsnetz. Wer seine Stimme erhebt, erreicht durch das Internet die zumindest potentielle Weltöffentlichkeit. Dank Filtern, denen ausgeklügelte, sich bisher noch im Frühstadium befindliche Bewertungsmechanismen zugrunde liegen, hat Qualität, so individuell sie auch bewertet wird, mehr Chancen denn je, sich durchzusetzen. Auch von regulierenden Eingriffen der verlustreichen Industrien und der überforderten Behörden konnte sich das Internet bisher meist durch schnell erarbeitete Innovationen entziehen.
Die mit dem Internet ausgelöste Revolution kommt von unten: Initiiert von Informatikern, zum Teil aus Entwicklungsländern, aufgenommen von den frühzeitigen Anwendern aus der ganzen Welt, den „Early Adopters“, und kommerziell unterstützt von Investoren mit Profitabsichten. Oder von Spendern, wie bei der Wikimedia, dem Verein hinter der „freien Enzyklopädie“. Während sich immer noch Leute über die Wikipedia lustig machen, weil ab und zu Details nicht stimmen oder ganze Spassartikel unentdeckt vor sich hingammeln, werden die Billig-Laptops für die dritte Welt, dem sogenannten 100-Dollar-Laptop, standardmässig mit einer Momentaufnahme der Wikipedia ausgestattet. Was den Millionen von Kindern, die vom Internet abgeschottet sind, Wissen bringt. Schafft es also ein kleiner Verein, was millionenteure Entwicklungsprojekte nicht hinkriegen, nämlich das aktuelle Wissen der Welt in Englisch, Hindi, Suaheli oder auf Arabisch den Kindern der Welt zur Verfügung zu stellen?
Die Elite, „eine Auslese darstellende Gruppe von Menschen“, wie es im Duden heisst, kann mit den neuen Möglichkeiten täglich neu zusammengestellt werden, in den verschiedensten Kategorien, aufgefunden durch die verschiedensten Filter. Haben sich nicht alle Revolutionäre immer gewünscht, dass die Macht verteilt wird? Dass niemand alleine die Führung der Welt übernimmt, sondern wir alle gemeinsam? Nun ist die Möglichkeit durch die technologische Innovation da, und sie wird genutzt werden. Es ist nicht mehr die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem System, sondern das genaue Gegenteil. Ein Einzelner, wird er denn unterstützt, kann ein ganzes System beeinflussen. Das konnte er zwar schon vorher, aber so leicht wie durch das Internet wurde es ihm noch nie gemacht. Barack Obama ist der erste Präsident dieser Bewegung, die sich nicht klar umreissen lässt, sich aber mit Entschiedenheit einer bedingungslosen Transparenz verschrieben hat. Was anderes erlaubt das Internet auch gar nicht.
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Dieser Artikel erschien in redigierter Form unter dem Titel „Das Internet fördert die Demokratie – Warum die Menge intelligenter und effizienter als Eliten entscheidet“ am 6. Februar 2009 in der Neuen Zürcher Zeitung.
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