Wie das mit der Ironie eben nicht geht

Die Aktion „Geh nicht hin“ ruft zum Wahlboykott auf, verlangt aber, dass dieses Vorgehen klar als ironisch erkannt wird. Zuseher, die dieser Idee nicht folgen können, werden von Exponenten der Aktion als „Idioten, die Ironie nicht verstehen“ bezeichnet.

Ich habe ein Video (youtube.com, 1:10 Minuten, 17. Juli) gesehen, in dem „Weltstars wie die Geigerin Anne-Sophie Mutter neben jungen youtube-Helden wie Buddy Ogün, Tagesschau-Mann Jan Hofer neben dem palästinensisch-stämmigen Rapper Massiv aus dem Berliner Wedding“ und andere den Wählern in Deutschland sagen, sie sollen nicht zur Wahl gehen. Die Website dazu heisst gehnichthin.de.

Geh nicht hin!
Screenshot youtube.com

Etwas später dann wurde ein zweites Video (youtube.com, 1:08 Minuten, 26. Juli) hochgeladen, das genau gleich beginnt und dann nach über einer Minute erklärt, alles bisher gesagte sei nur Blödsinn, natürlich solle man wählen gehen. Die Aktion ist keine eigene Idee, sondern um eine Kopie aus den USA (youtube.com, 4:45 Minuten). „Als großer Unterschied – neben wesentlich bekannteren Promis – lieferte der US-Spot aber die Auflösung von Beginn an mit“ (heise.de, 29. Juli).

Offenbar ist es so, dass die Initianten und die Protagonisten dieses Aufrufs davon ausgehen, es gebe einen Common Sense, dass zur Wahl gehen eine wichtige und unbedingt wahrzunehmende Bürgerpflicht ist, die so unumstritten ist, dass man sie problemlos ironisch brechen kann. Sie glauben wohl, das sei so, als würde man sagen: „Natürlich fällt dieser Apfel nicht zu Boden, wenn ich ihn loslasse.“ Oder: „Die Sonne geht morgen nicht auf.“ Oder: „Du wirst schon nicht sterben, wenn du jetzt vor diesem einfahrenden Zug auf die Gleise stehst.“

So ist das aber nicht.

Es gibt viele Leute, die nicht zur Wahl gehen und das auch begründen. Journalisten zum Beispiel, die mit einer Wahl ihre Unabhängigkeit gefährdet sehen. Menschen, welche die politische Gestaltung lieber anderen überlassen. Und es gibt Leute wie Gabor Steingart, Korrespondent des Spiegel in Washington, die Bücher schreiben, in denen Sie erklären, warum es keinen Sinn macht, überhaupt wählen zu gehen. Die bewusst zum Wahlboykott aufrufen.

Die „Macher und Darsteller“ zeigen sich nach der Veröffentlichung des Videos „überraschend überrascht“ (handelsblatt.com, 28. Juli) über „jede Menge Idioten, die Ironie nicht verstehen“ (Zitat des MTV-Moderators Patrice Bouédibéla, sueddeutsche.de, 29. Juli) . Für „Tagesschau“-Sprecher Jan Hofer ist es klar, dass wer zu einem Wahl-Boykott aufrufe, „extrem geltungssüchtig“ oder „extrem bescheuert“ sein müsse (ftd.de, 28. Juli). Vielleicht meint er sich selbst?

Die „Macher und Darsteller“ reagieren überraschend naiv. Wer dazu aufruft, nicht wählen zu gehen, muss damit rechnen, genau so verstanden zu werden – zu Recht, meiner Meinung. Das liegt nicht an der fehlenden Intelligenz oder Empathie des Publikums, das liegt daran, dass wir heute in einer Zeit leben, in der es kaum noch gesicherte Werte ist, also grundsätzlich alles möglich ist. Viele der Menschen, die mit dem Video angesprochen werden, sind mangels klarer Vorbilder orientierungslos – wir leben im autoritätsverkehrten Jahr 2009, nicht mehr im wertbeständigen Jahr 1959. Es ist ein Zeitalter der Beliebigkeit, in der man sich alles vorstellen kann. Also auch irgendwelche bekannten Figuren, die zu einem Wahlboykott aufrufen. Schliesslich sind dauernd irgendwelche bekannten Figuren am TV und auf Plakaten, die sich für irgendwas einsetzen. Was da wie wichtig und wie glaubwürdig ist – das ist schon längst durcheinandergeraten. Das musste auch Jan Hofer merken, der „rund 1000 Mails“ verschicken musste, „um offensichtlich irritierte Freunde und Kollegen zu beruhigen“ (heise.de, 29. Juli)

Ich bin überzeugt, dass die Aktion bei vielen Zusehern das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt hat. Sie haben die erste Hälfte des ersten Videos gesehen und dann wegen Langeweile wieder ausgeschaltet (und es ist hart, da zuzusehen, also ich hatte die grösste Mühe). Gedanken hat sich die Zielgruppe wohl kaum gemacht. Aber das Gefühl, das es eh egal ist, ist vielleicht wieder etwas grösser geworden.

Persönlich bin ich dafür, alle möglichen demokratischen Rechte zu nutzen. Und ich halte es für eine gute Idee, sie zu erhalten oder auszubauen. Wahlaufrufe benötige ich aber definitiv keine. Es ist die Freiheit von allen, diese Möglichkeiten zu ignorieren. Wäre es nicht so, dann gäbe es eine gesetzlich verankerte Wahlpflicht.


Kommentare

4 Antworten zu „Wie das mit der Ironie eben nicht geht“

  1. Ich wähle und stimme fast immer ab, primär aus Gewohnheit, nicht aus Überzeugung, damit etwas bewirken zu können – im Gegenteil … insofern ist mir völlig verständlich, dass der erwähnte Aufruf nicht als ironisch verstanden werden kann; gerade auch in Deutschland, wo Wähler nur in seltenen Fällen ihre Vertreter in den Parlamenten und Regierungen direkt wählen können.

  2. Aber eins hat die Kampagne erreicht: es wird darüber geredet. Und es ist eine Diskussion entfacht, über Wahlen nachzudenken. Egal welchen Standpunkt man dabei bezieht! Ich denke schon, das dies das Ziel der Kampagne war. Eine Diskussion, in allen Medien. Das ist wohl erreicht. Und somit sind wir alle bei den nächsten Wahlen wieder etwas aufmerksamer.

  3. Lieber Carsten,

    Deine Meinung in allen Ehren, aber genau das ist doch das Problem: Solang man sich mit der Laschheit „es wird wenigstens darüber geredet“ zufrieden gibt, vielleicht noch den zehntägigen Halbdiskurs des Feuilletons im Sommerloch als „Erfolg in allen Medien“ preist, hat meines Erachtens nicht verstanden, dass Demokratie mehr ist als das Absondern salbungsvoller Statements.

    Da nützt es auch nichts, wenn man sich hach-so-ironisch-provokativ den Kritikern gegenübern äußert. Diese Spots gehören eindeutig in die Kategorie „Erst Fremdschämen, dann schnell verdrängen“, denn sie suggerieren, dass es mit dem Kreuzchen getan ist. Ist es aber nicht. Der Kampf um Demokratie und Freiheit ist anstrengend. Und man kann ihn nicht per Youtube-Clip führen.

    (Nochmal: Das wendet sich nicht gegen Carsten. Nur gegen das Pseudoargument. Oder war das etwa Ironie?)

  4. Der Pfadfinder sagt:

    Nicht zur Wahl gehen ist KEINE LÖSUNG.

    DIE LÖSUNG ist, die Legitimation entziehen!
    Geht nicht? Geht doch, nur Du weisst es „noch“ nicht!

    Hier die Marschroute.

    1. Zur Wahl gehen
    2. Einen Wahlzettel ungültig zu machen und den zweiten mitnehmen (als Beweis der Ungültigkeit)
    3. WerbeGag mitmachen und eine neue Staatsangehörigkeit bestellen (keine Angst, Deine gegenwärtige kannst Du nicht verlieren)

    Wo bekomme ich die Unterlagen und wo finde ich Information?
    http://www.aktion-kehrwoche.com/wp

    Die drei schlimmsten Übel sind: Dummheit, Ignoranz und Feigheit – höre auch mal auf den Bauch, der weiss oft mehr als der Kopf ;-)

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