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Belästigung bei den #MeToo-Experten

In der Schweiz gibt es vielleicht 10 000 bis 15 000 Menschen, die ihr Auskommen mit Journalismus bestreiten. Sie stellen gerade mal 0,25 Prozent der über 5,1 Millionen Erwerbstätigen. Doch Journalisten berichten überdurschnittlich oft über die eigene Branche. Weil sich narzisstische Journalisten gerne selbst bespiegeln, aber auch, weil über die Medien Macht und Einfluss ausgeübt wird.

So passiert das auch in der neusten Ausgabe des «Spiegels», in der eine langjährige Redaktorin des wöchentlich erscheinenden «Magazins», Anuschka Roshani, über dessen langjährigen Chefredaktor, Finn Canonica, auspackt – worauf Blick, Zeit, NZZ, Süddeutsche, und viele mehr sofort ausführlich berichten.

Wie aus der noch am Wochenende veröffentlichten Zusammenfassung des von Arbeitgeberin Tamedia in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts von Mai 2022 herauskommt, hatte sich Anuschka Roshani im November 2020 per Blindbewerbung beim Verleger auf den Job ihres Chefs beworben – diesen aber nicht erhalten. Später folgten längere Krankschreibungen beider Beteiligten. Roshani arbeitete von 2002 bis 2022 für «Das Magazin», Canonica schrieb seinen ersten «Magazin»-Text 1997 und war Chefredaktor von 2007 bis 2022.

Dass sich jemand wie Finn Canonica so lange in der Chefposition halten konnte, hat auch mit seinem Umfeld zu tun. Die meisten der nun öffentlich gegen ihn geäusserten, durchaus nicht harmlosen, wohl aber auch nicht strafbaren Vorwürfe sind seit vielen Jahren bestens bekannt, in der Redaktion, aber auch weit darüber hinaus. Wie bei ähnlich gelagerten Fällen kursierten entsprechende Geschichten über viele Jahre hinweg.

2017 versuchte etwa WOZ-Journalist Andreas Fagetti, der Sache im Branchenmagazin «Schweizer Journalist» auf den Grund zu gehen, doch niemand redete: «Keine Quelle wollte offen dazu stehen». Genauso ging es auch mir selbst, als ich 2015 als Medienjournalist versuchte, die Vorwürfe gegen Canonica zu erhärten: Weil niemand bereit war, die Kritik öffentlich zu äussern, kam die Geschichte nicht zustande. Auch die öffentliche Anklage von Roshani kommt nach 18 Jahren Zusammenarbeit – was ein fürchterlich langer Leidensweg ist – reichlich spät.

Dass sich dieser Fall der Belästigung in einer Redaktion abspielt, die Woche für Woche als moralische Instanz in allen Fragen des korrekten Zusammenlebens der Geschlechter auftritt, irritiert. Es ist der publizistische Vatikan für #MeToo-Fragen, der von #MeToo-Vorwürfen erschüttert wird. 2021 erhielten zwei «Magazin»-Autoren den Zürcher Journalistenpreis für die «Magglingen-Protokolle», eine Recherche über missbrauchte Kunstturnerinnen.

Wie die Vorgesetzten von Canonica in der Verantwortung stehen und seit wann sie was gewusst haben, ist für die Öffentlichkeit schwierig zu beurteilen. Der ständige Unfrieden in der Redaktion war ihnen aber durchaus bekannt. Gemäss Fagetti sollen sie etwa 20 000 Franken ausgegeben haben, nur um abzuklären, ob ein Redaktor den Computer von Chefredaktor Canonica gehackt hatte. Ergebnis: Das war nicht der Fall. Dass sich Tamedia am Ende sowohl von Canonica als auch von Roshani trennte, ist wohl richtig. Doch der Entscheid kommt viel zu spät.

Der vielleicht zäheste und mutigste Journalist des Westens sitzt währenddessen weiterhin im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Seit bald vier Jahren, ohne Erklärung und Anklage: Julian Assange. Während Journalisten Nabelschau betreiben, geht er nach und nach vergessen.

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Stil als Haltung, Lebensführung und -weise

Was ist bloss aus dem „Magazin“ geworden, fragte ich mich im Juni 2009 und kürzlich wieder, als zu lesen war, dass Chefredaktor Finn Canonica es nicht ertragen konnte, Teil einer humoristischen Bildergalerie des hauseigenen Webportals tagesanzeiger.ch zu sein, in der er einen Geri-Weibel-Faktor von 8,5 zugesprochen bekam (siehe dazu „Finnde den Fehler“ auf klatschheftli.ch. Geri Weibel ist eine fiktive Figur des Schriftstellers Martin Suter, die sich grosse Mühe gibt, jedem aktuellen Lifestyle-Trend nachzuspüren.)

Die über das Newsnetz verbreitete Story „Die echten Geri Weibels“ ist inzwischen überhaupt nicht mehr zu lesen. Wie aus der Redaktion zu hören ist, erfolgte die Entfernung des Artikels wenige Stunden nach der Publikation auf Anweisung des Verwaltungsratspräsidents der Tamedia AG, Pietro Supino, der so auf die Verärgerung von Canonica reagierte.

Und diese Woche wunderte ich mich einmal mehr, als ich das in einer kürzlich verschickten Medienmitteilung las:

Das Magazin begreift Stil nicht ausschliesslich als Mode und Luxus, sondern als Zeichen einer authentischen Lebensführung. Unter der Leitung von Chefredaktor Finn Canonica setzt sich die Magazin-Redaktion mit Stil als persönliche Haltung oder Lebensweise auseinander.

Schauen wir dazu einige Sekunden auf diese Leinwand und denken darüber nach:

Leinwand

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„Das Magazin“ zerlegt sich in Häppchen

Im neuen „Magazin“ von Tamedia glänzt nach dem Relaunch vor allem die Werbung. Sind die grossen Zeiten nun vorbei? Muss der publizistische Leuchtturm ein Heftli werden?

“Facts” ist eingestellt, die “Weltwoche” verkauft immer neue Teile ihrer Titelseite und ich erkenne meine Lieblingslektüre der letzten 25 Jahre, das “Magazin”, nicht wieder. Als ich das komplett überarbeitete und am 3. Januar 2009 erstmals in grösserem Format erschienene Heft erstmals durchblätterte, stach mir vor allem die Werbung ins Auge, die sich in frohen Farben von den matt kolorierten redaktionellen Inhalten abhebt. Das publizistische Konzept wirkt damit wie auf eine bis vor kurzem nicht denkbare Weise umgekehrt: Nicht mehr die Werbung ergänzt die Inhalte, sondern die Inhalte ergänzen die Werbung.

Und es tauchen redaktionelle Inhalte auf, die mich stutzen lassen. Es erscheinen Artikel über pseudomoderne Fahrräder, die viel Geld kosten, allerdings keine Bremsen und Lichter haben – irgendwie der letzte Schrei. Oder es wird eine ganze Ausgabe mit Inhalten gefüllt, die zuvor im Geschäftsbericht des Detailhändlers Migros erschienen sind. Flankiert mit bezahlter Werbung – der Migros.

Das Magazin
Eine Vorliebe für Hemden, Krawatten, Anzüge? Foto: Ronnie Grob

Als Res Strehle im April 2007 vom Magazin-Chefsessel in die (zunächst stellvertretende) Chefredaktion des Tages-Anzeigers stiess, folgten im Magazin Finn Canonica und Guido Mingels (Stv.) nach. Ehemals der Ort für lange, herausragende Sozialreportagen, für Denkanstösse, für politische und wirtschaftliche Hintergründe, wandelt sich das Heft unter der neuen Führung in einen Styleguide der versnobten, städtischen Eltern. Die Themen drehen sich vornehmlich um Stil, Mode, Kochen, Frauen, Kinder, Reisen, Trends. Politik? Ja, aber dann nur die menschliche Seite. Gesellschaft? Ja, aber nur, wenn etwas Glamour dran ist. Wissenschaft? Das ist zu trocken, das geht nur aufgepeppt. Investigationen? Verlaufen nicht immer günstig; Redaktionsmitglied Sacha Batthyany widerfuhr das Unglück, in Liverpool von einem Fünfzehnjährigen ausgeraubt zu werden.

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