Die Schildkröte Alter holt jeden – auch den rollenden Stein von 1968

40 Jahre ist es her, seit ein Aufruhr gegen die Konventionen des Bürgertums stattfand. Nun sind die “Children of the Revolution”, die damals keinem über dreissig trauen wollten, im Rentenalter. Sie sind heute das, was sie selbst mal bekämpft haben: das starrsinnige, dünnhäutige Establishment.

Ihr lieben Achtundsechziger
Ihr lieben Achtundsechziger
Jedes Böhnchen marschiert durch ein Institutiönchen
Danke für Alles – Ihr dürft jetzt gehn

PeterLicht – Ihr lieben Achtundsechziger

In diesen Tagen erscheinen in den Zeitungen wieder sehr viele Texte und Beilagen rund um das Jahr 1968, als einige junge Menschen aus meist gutbürgerlichem Haus auf die Strasse gingen und “Revolution machten”. Wer sich fragt, warum denn dieses Phänomen so ausführlich in den Medien Platz findet, wenn einen doch die Zusammenfassungen dieser Tage bereits zum zwanzigsten, zum fünfundzwanzigsten und zum dreissigsten Jahrestag gelangweilt haben, dem sei gesagt, dass viele der damaligen Revolutionäre Journalisten geworden und inzwischen in den Chefetagen angekommen sind. Und die nun mal gerne zurückschauen auf die Zeit, in der sie noch jung und wild waren. Genau so wie sie damals wieder und wieder lesen und hören mussten, wie sich ihre Elterngeneration im zweiten Weltkrieg geschlagen hatte. So wie die jetzige Generation die Anfänge des Internets preisen wird in dreissig Jahren.

Heute sind die 68er und viele ihrer vielen Nachkommen das, was sie selbst mal bekämpft haben: das starrsinnige, dünnhäutige Establishment. Es ist kein Vorwurf, es ist nur das stets verdrängte Alter, das sie nun doch noch einholt, so wie die runzlige Schildkröte einen rollenden Stein, der irgendwann doch noch zum Stillstand gekommen ist.

Joschka Fischer, Mitte, lacht am Dienstag, 22. April 2008, neben seiner Ehefrau Minu Barati, links, waehrend des Empfang anlaesslich seines 60. Geburtstags in Berlin.
Joschka Fischer, Mitte, lacht am Dienstag, 22. April 2008, neben seiner Ehefrau Minu Barati, links, waehrend des Empfang anlaesslich seines 60. Geburtstags in Berlin. (Bild: AP/Keystone, Tim Brakemeier)

Keine Frage, 1968 war eine Zerschlagung starrer und starr gewordener Konventionen, eine notwendige Infragestellung der fixen Formen der Bürgerlichkeit. Anstelle von ihnen suchte man die freien Formen, in der Liebe und im Alltag. Und man fand sie auch, wenigstens vorübergehend. Ganze Generationen von Junghippies bewunderten das Glück der Menschen, die den Summer of Love miterlebt oder Jimi Hendrix bei Woodstock live gesehen hatten. X Jahrgänge von Jugendlichen erlebten immer und immer wieder 68 nach, mal im Kleid der 80er-Jugendunruhen, mal im Kleid der Street Parade – ging es einmal mehr um Politik, ging es ein anderes mal mehr um Drogen und Musik. Aber irgendwie immer um Freiheit, um Liebe, um Frieden sowie gegen einen unklaren Feind, zu dem jeder werden konnte, der den Groove, ein Gefühl zwischen Zusammengehörigkeit, Toleranz und Gleichgültigkeit, störte. Meist waren das Menschen mit den falschen Kleidern, mit zu viel Geld oder einem Beruf wie Polizist.

Ihre in ihrer Jugend durch schwierige Zeiten gegangenen Väter und Mütter, die oft nichts mehr wollten, als dass es ihren Kindern mal besser geht als ihnen oder das zumindest behaupteten, rauften sich die Haare und fragten sich, womit sie bloss die ständige Konfrontation mit einer unkontrollierten Bande von Langhaarigen verdient hatten. Dass die eigenen Eltern, gegen die man opponiert hatte, auch einmal der Meinung waren, das Gute und das Richtige zu tun, hat man gerne verdrängt. Und wie ungerecht man sich ihnen gegenüber verhalten hat, auch. Konkret verändert hat diese Bande, im Sinne von lose verknüpften Gesinnungsgenossen, oft nur Marginales – viele der Ideen erwiesen sich als Luftschlösser, gingen in Drogen unter oder versandeten nach einigen Jahren. Festgesetzt haben sich die Ideen einer nicht näher spezifizierten Freiheit und einer bedingungslosen Solidarität jedoch in den Köpfen und wurden, je mehr Zeit verging, umso mehrheitsfähiger. Die kürzliche Abwahl des Justizministers, der vor dreissig Jahren als ein unverdächtiger Bürgerlicher durchgegangen wäre, zeigt die aktuellen Verhältnisse anschaulich auf.

Die “Children of the Revolution” sind nun zwar alt, aber Kinder geblieben. Der Wille zur Einsicht, nicht alles als gut und richtig empfundene, wofür man eingestanden ist, habe auch zu guten und richtigen Ergebnissen geführt, ist bei vielen kaum vorhanden. Stattdessen gibt man sich unschuldig wie Kinder und wehrt trotzig jede Kritik ab, wenn die Sprache auf die Auswirkungen kommt. Für die Auswirkungen fühlt sich niemand verantwortlich. Und die haben es in sich, eben weil sich niemand dafür verantwortlich fühlt. Es wurde de facto ein über lange Zeit organisch gewachsenes, funktionierendes traditionelles System zerschlagen und zunächst, jedenfalls in den Köpfen, mit dem anarchischen Nichts ersetzt. Viele der ehemals von der Gesellschaft selbst getragenen Verantwortlichkeiten gerieten in den luftleeren Raum und wurden nach und nach dem Staat übertragen – welcher nun ächzt unter der aufgetragenen Last, unaufhaltsam anwächst und unbeweglicher wird (die Gesamtausgaben des Staats, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, haben sich seit 1960 nahezu verdoppelt). Was dem Business vieler Linkswähler, der nicht direkt produzierenden Edukation und Beratung, oft direkt zugute kommt.

Die etablierte Elite, das Establishment (englisch: Einrichtung, organisierte Körperschaft), welche die Fäden der Macht in den Händen hält, ist nicht nur an der Kapitalkraft festzumachen, sondern auch an der Besetzung wichtiger Führungspositionen. Und viele der ehemaligen Revolutionäre sind einflussreiche Beamte geworden in der Gurke Staat, aus der sie mal Salat machen wollten (Joschka Fischer hat es bis zum Aussenminister geschafft). Oder sie sind rund um den Staatsapparat aktiv als Politikerinnen, als Berater, als Ersteller von Studien und anderen Dienstleistungen in allerlei Tätigkeiten, an deren Ende oft höhere Steuern stehen.

Ein eindeutiges Zeichen, wer zurzeit das Establishment stellt, lässt sich mit der Haltung erklären, die gewechselt hat – und zwar von Angriff auf Verteidigung bei den 68ern und folgenden und von Verteidigung auf Angriff bei den “Bürgerlichen”. Klare Fronten sind aber heute, wie in so vielen anderen Bereichen, nicht mehr auszumachen. Der kalte Krieg ist vorbei. Ein zweites deutliches Anzeichen für Establishment ist der Vorwurf von schlechtem Stil an die (Schweizer Rechtspartei) SVP – dafür war man früher selbst zuständig. Man war frech, warf Eier, spuckte Polizisten ins Gesicht und beleidigte wahllos. Drittens ist man zur moralischen Instanz geworden. Nicht mehr die Bürger im Einfamilienhaus, die im Militär und in der Kirchgemeinde aktiv sind und vielleicht einen SUV fahren, gelten als moralisch einwandfrei. Moralische Vorbilder sind die Fahrradfahrer mit Velohelm, die in ihrem Minergiehaus Flugmeilen-Ablasshandel treiben.

Dazu sind viele der damaligen Ideen aus der Mode: Die naive Idee bedingungsloser Solidarität wird heute nur noch von wenigen geteilt, auch in den eigenen Reihen, die sich vor allem in den linken, heute staatstragenden Parteien versammeln. Das, was diese Solidarität mit allen, die den Eindruck erwecken konnten, unterdrückt zu werden von denen, die zur Gruppe des nur unscharf umrissenen “Feinds” gezählt wurden, ausgelöst hat, nämlich einen ausufernden Sozialstaat mit einer angehängten Beratungswirtschaft, eine Schwächung der nicht vom Staat abhängigen Wirtschaft, eine als Toleranz verkaufte Ignoranz gegenüber Problemen, die im Zusammenhang mit der Migration aufgetaucht sind – dafür will sich niemand verantwortlich fühlen. Ihre politischen Gegner, in den letzten Jahren unaufhaltsam unter der Führung von Christoph Blocher und seiner SVP am rechten Rand der nach links gerückten Bürgerlichkeit aufgestiegen, versuchen nun auch, aus dem Staat Gurkensalat zu machen, nur anders: Weniger Steuern, mehr Volksrechte, sparen.

Von geäusserter Kritik an den 68ern wollen ihre Exponenten, früher selbst die schärfsten Kritiker von allem möglichen Guten und Schlechten, nichts hören. Man konzentriert sich lieber auf die schönen Stunden in der Jugend und will sich die nicht schlecht machen lassen. Schliesslich hat man für den Frieden gekämpft, für die Freiheit und für einen Gemischtwarenladen, in den die Unterstützung von bewaffneten Gewalttätern so gut reinpasste wie die Lobpreisung eines Mao Zedong, dessen Kampf gegen Rechtsabweichler während der Kulturrevolution 1966-1976 insgesamt sieben Millionen Tote forderte.

Ehemalige 68er lassen sich heute grob in drei Gruppen teilen. Erstens die Bewahrer: Sie halten, was auch immer zur Sprache kommt, fest an den Ideen, an die sie mit 25 geglaubt haben – alles andere käme ihnen vor wie ein Verrat. Zweitens die Denker: Sie haben sich von vielen ihrer damaligen Ideen distanziert und vertreten heute teilweise komplett entgegengesetzte Gedanken. Drittens der grosse Teil der Unpolitischen oder unpolitisch gewordenen: Ihnen steht die Harmonie im Vordergrund. Sie verzichten dem Frieden zuliebe auf Diskussionen, haben das Politische zugunsten des Privaten aufgegeben und sehen dennoch gerne verklärt auf ihre Jugend zurück.

Vergessen sollte man auch nicht die Opfer: Die der vierunddreissig Morde der Splittergruppe RAF zum Beispiel. Die mit Steinen beworfenen Polizisten. Benno Ohnesorg, der von Polizisten erschossen wurde. All jene, die ihr Leben nach übertriebenem Drogenkonsum nicht mehr auf die Reihe kriegten. All jene, die sich nicht mehr zurechtfinden in einer Gesellschaft, in der viele feste Werte aufgelöst wurden. Zugegeben: Das sind für eine Revolution wenige Opfer. Und es ist auch nicht richtig, die 68er und folgende für alle aktuellen Probleme verantwortlich zu machen. Etwas mehr Selbstkritik darf von jenen, die heute den weltanschaulichen Mainstream bilden, aber schon erwartet werden.

Was machen Ihre Kinder? Viele von ihnen sind tatsächliche oder potentielle SVP-Wähler, die besonnen erklären, warum sie sich für diese Partei entschieden haben. Strebsam und fleissig ihren Weg gehende Kinder, die sich etwas schämen, wenn der Papa einen Joint rauchen geht. Andere sind überfordert von einer Welt, in der es keine verbindlichen Werte gibt und darum verwirrt und orientierungslos. Sie wenden sich, wie ihre Eltern schon, wahlweise Sekten, Drogen, Obsessionen zu und enden später dann doch oft in der klassischen Zweierkiste mit zwei Kindern und einer Scheidung. Und es gibt die, die den Weg ihrer Eltern nachzeichnen. Die wie sie links sind und sich im Recht fühlen. Deren grösste Zivilcourage darin bestanden hat, sich einmal vor sich jemanden hingestellt zu haben und ihm erklärt zu haben, warum man das Wort Neger nicht sagen darf.

4 Gedanken zu „Die Schildkröte Alter holt jeden – auch den rollenden Stein von 1968“

  1. Ach Gott, DIE 68er! Hat es sie gegeben? Hat es sie so gegeben, wie sich diejenigen, die sich heute so darstellen, gerne kolportieren? DIE 68er, vor allem diejenigen, die heute dafür gehalten werden, haben DIE Medien, hat Presse doch erst gemacht. Zufällig ereignete sich 68 europaweit, nahm seinen Ausgang in Studentenunruhen in Paris, verendete hinter dem eisernen Vorhang kläglich im Prager Frühling. -DIE 68er haben ja nicht einmal die Versetzung der Bundeswehr in Alarmzustand mitbekommen. Die Presse nahm auch keine Notiz davon.- Und dann gabe es eben auch die 68er, die weder Zeit, noch Lust auf DIE 68er und ganz andere Sorgen hatten. Solche 68er waren schon damals DIE Mehrheit.

    Für die Bundesrepublik kam die Besonderheit der Verlogenheit und Verantwortungslosigkeit der Vorgeneration erschwerend hinzu, der Generationenvertrag als Sahnehaube oben drauf. Wer denken, wer rechnen konnte, durchschaute den Schwindel, der heute als „Ausuferung des Sozialstaates“ verkauft wird, nichts anderes als Versagen der Politik und Eliten 1933 bis heute darstellt, eigentlich beginnend mit spätestens 1914. Nein, Diskreditieren des Solidaritätsgedankens ist auch heute nur Ergebnis, Folge schwarz-gelber Wirtschafts- und Sozialpolitik, zumindest in der BRD, in der die Splitterpartei der Besserverdiener 40 Jahre den Wirtschafts- und damit den Sozialkurs bestimmte.

    Nun feiern wir also wieder ein Jubiläum ab. Alle Vorurteile, Verdächtigungen, Fehleinschätzungen von damals bis heute passieren Revue. Und weil es DIE 68er, zumindest einige von ihnen gibt, die heute beruflich und/oder politisch situiert, etabliert sind, soll ich mir mein Leben neu stricken lassen? Nun muß wider der Gesinnung bis zur Besinnungslosigkeit nachgespürt sein. Mehr als Kaffeesatzlesen kommt bei solch Strickzeug nicht heraus. Die Auguren hatten schon damals nicht recht. Wiederholung macht nichts davon richtiger.

    Och ne, ich feiere nicht 40 Jahre DIE 68er! Dann lieber 75 Jahre Bücherverbrennung 10.Mai 1933! Jedenfalls ist die Suche nach den verbrannten Dichtern viel spannender, viel wichtiger. So war das für 1(einen) 68er schon 68. Das bleibt so. Basta!

  2. Die 68er waren wohl notwendig, den ohne diese mini Revolution, hätte sich wohl wenig geändert, alles wäre immer noch verboten oder Unmoralisch. Wir haben uns die Freiheit genommen, wo immer es möglich war. Die 68er waren nicht schlechter aber auch nicht besser , als die heutigen Jugendlichen.Es war nicht alles schlecht, was die 68er gebracht haben. Ohne die 68er würden wir immer noch in einer Art Gefängnis leben. Die Welt ist doch wirklich offener und toleranter geworden. Klar, eine SVP wie wir sie heute in Zürich kennen ist ein Schritt zurück.Wir müssen aufpassen, das dass Pendel, nicht wieder zu fest nach rechts, zurück schlägt.Es wäre schade wenn unsere Gesellschaft, wieder so verkrustet würde, wie vor 1968. Darum bitte nicht auf die 68er schimpfen, sondern; „besser machen !!“
    Liebe Grüsse zentao

  3. @ZENTAO: Die 68er werden heute mehr an ihren Sprüchen als an ihren Ansprüchen gemessen. Anspruch war, Verkrustungen aufzubrechen. Das ist gelungen. Anspruch war eine liberale Gesellschaft. Das ging -zumindest für die BRD- mit und im Kalten Krieg unter. Der Anspruch auf eine solidarische Gesellschaft wurde von der ersten Rezession, etablierter Politik und dem Kreditkapital der Wirtschaft geschluckt, heißt heute Hartz IV, und morgen bringt uns Köhler mit der Agenda 2020 Harzt XVI.
    Der Anspruch auf mehr Demokratie war in der BRD eine Formel zur falschen Zeit am Falschen Ort an die falsche Adresse: vom nicht befreiten aber besiegten, besetzten und geteilten drei Viertel-Deutschland BRD an USA. Dort war nichts zu holen, und das wurde von Vietnam bis 9-11 auch noch eingeholt.
    Was sie uns, was sie den 68er immer noch übel nehmen, ist der Kontrollverlust, ist die zaghafte und schon wieder halb abgebrochene Öffnung der Gesellschaft. Völlig gescheitert sind die 68er an der Überwindung des Faschismus. Sie wußten nicht, daß Enkel das nicht leisten können. Sie ahnten aber auch nicht, Enkel würden ihn pflegen. Sie waren zu sehr mit Vätern und Großvätern beschäftigt. Wenn heute in der BRD NPD-Aufmärsche wieder in sind, CH sich mit der SVP rumschlägt, dann sollten wir nicht aufpassen, daß das Pendel nicht zuweit nach rechts ausschlägt, wir sollten es stoppen. Das wäre eine lohnende Aufgabe für die Kritiker der 68er. Dem steht 2008 die Status-quo-Mentalität leider entgegen.

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