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Noch bis zum 28. August 2015 ist es möglich, ein Projekt zu finanzieren, das mich für sechs Wochen nach Bern bringt. Es ermöglicht mir, als Journalist und Blogger den Wahlkampf um die Schweizer Parlamentswahlen im Herbst zu beobachten.

Update: Es hat geklappt!

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Ich will meinen Bundesrat selbst wählen

Als Auslandschweizer erhalte ich die Abstimmungsunterlagen immer lange im Voraus. Eigentlich nicht schlecht, dann kann man etwas länger überlegen. Nun hab ich aber was draufgeschrieben auf den Zettel. Ein „Ja“:

Stimmzettel zur Volkswahl des Bundesrats

Klar, auch für ein „Nein“ gibt es Gründe. Warum etwas ändern, dass so lange zufriedenstellend funktioniert hat? Bringt man nicht so womöglich die Harmonie des Staatssystems aus dem Gleichgewicht?

Ich glaube nicht. Als Befürworter Direkter Demokratie und möglichst direkter Mitsprache der Bevölkerung bin ich dafür, dass die Schweizer Bürger sich ihre Exekutive selbst wählen, und das nicht die 246 National- und Ständeräte machen lassen, ihre gewählten Stellvertreter. Ich vertraue darauf, dass die Bürger das nicht schlechter machen als die Parlamentarier. So weiss das auch die Weisheit der Vielen: Grosse Gruppen fällen klügere Entscheide als kleine, wenn die Meinungsvielfalt gewährleistet ist und ihre Einzelteile unabhängig voneinander urteilen.

Weil der Änderungsvorschlag auf Initiative der SVP erfolgt, werden sich vermutlich viele aus Unsicherheit für die bewahrende, die konservative Lösung entscheiden. Ich meine dagegen: Wir sollten die womöglich so schnell nicht wiederkehrende Chance ergreifen, unsere demokratischen Rechte auszuweiten. Ich will meinen Bundesrat selbst wählen. Ob ich das als Auslandschweizer überhaupt sollte, ist wieder eine andere Frage. Aber weil ich es kann, leg ich ein „Ja“ ein.

Eidgenössische Volksinitiative „Volkswahl des Bundesrates“ (Wikipedia-Artikel)
Eidgenössische Volksinitiative „Volkswahl des Bundesrates“ (Wortlaut des Antrags auf Verfassungsänderung)

Die Ausschaffungsinitiative als Wegweiser

Die Ausschaffungsinitiative empört die Medienmacher. Jene, die die tägliche Integrationsarbeit leisten, haben aber trotzdem „Ja“ dazu gesagt. Härtere Ausländergesetze sind zukünftig europaweit zu erwarten.

Wer gestern auf Twitter unterwegs war, konnte von Leuten lesen, die …

… sich fragten, ob die Schweiz „ein einig Volk von SVP-Patridioten“ sei.
… fanden, dass jeder, der mit „Ja“ abgestimmt hat, „ein Scheiss Nazi!!!!!!!!!“ sei.
… einfach nur „Kotz!“ riefen.

Fuck SVP
Bild: CC Nicolas Nova, BY-Lizenz

In der nicht als linksextrem verdächtigen „Welt“ glaubt Annette Prosinger in einem Kommentar unter dem Titel „Unschweizerischer“, den Schweizern würden jetzt ihre Ausländer zu viel – die in der Initiative zwingend mit der Ausschaffung verbundene Kriminalität kommt darin nicht vor:

Es ist ein Unbehagen an der modernen Welt, am Tempo der Globalisierung. Ein Problem, das viele Länder haben. Doch die vor hundert Jahren noch weitgehend bäuerlich strukturierte Schweiz tut sich damit besonders schwer.

Klar, andere Länder waren vor hundert Jahren natürlich ganz woanders.

Die Frage, die @blinski stellt, ist also nur folgerichtig:

Ausschaffungsinitiative

Handelt es sich also bei der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer um Neonazis? Kann die Schweizerische Volkspartei SVP, die hinter der mit rund 53 Prozent aller Stimmen angenommenen Volksinitiative steckt, tatsächlich als „rechtspopulistische Hassgruppierung“ gesehen werden, wie es Mathias Möller sieht? Auch wenn sie in den letzten Parlamentswahlen 2007 29 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinte und damit als grösste Partei der Schweiz jeden dritten oder vierten Schweizer Bürger vertritt?

Ich finde: Nein. Wie schlimm oder erfreulich das, was beschlossen wurde, tatsächlich ist, mag jeder für sich entscheiden. Ich habe die Ausschaffungsinitiative und die Argumente ihrer Gegner in diesem Beitrag auf direktdemokratie.com zusammengefasst.

Zur Entscheidung anzumerken sind folgende Punkte:

Die Ausschaffungsinitiative als Wegweiser weiterlesen

Was ist konservativ?

Werner J. Patzelt ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden. Für dresdeneins.tv hat er sich um die Frage gekümmert, was eigentlich konservativ ist.

Werner Patzelt
Bild: Screenshot dresdeneins.tv

Ab 10:15 Minuten sagt er zum Beispiel:

Welche Parteien sind denn nun konservativ? Gewiss nicht eine Partei wie die NPD, die den bestehenden Zustand ja nicht aufrecht erhalten, sondern umwerfen und beseitigen will. Wie sieht es aus mit jenen Parteien, die unseren Sozialstaat aufrecht erhalten wollen, wie etwa der SPD oder der Linkspartei? Sind die nicht eigentlich konservativ? Und gar erst die Grünen, die für Nachhaltigkeit beim Umgang mit natürlichen Ressourcen, die für Nachhaltigkeit bei der Finanzwirtschaft, beim staatlichen Verhalten eintreten und für die Stabilität des Weltklimas werben?

Man sieht: Es ist gar nicht so einfach, Konservatismus mit parteipolitischen Gruppierungen zusammenzubringen. Und hier ist es insbesondere eine Gleichsetzung, die in die Irre führt. Auch sie geht zurück auf die französische Revolution. Es ist die Gleichsetzung von rechts mit konservativ und von links mit fortschrittlich. Im Grunde verdankt sich diese Gleichsetzung nur dem, dass während der Revolution in der revolutionären Nationalversammlung Frankreichs die gemässigten Revolutionäre vom Präsidenten gesehen aus rechts sassen und die radikalen links. Und dass sich dieses Muster in den europäischen Parlamentssälen jahrhundertelang erhielt. Rechts sitzen jene, die vorsichtig mit dem bestehenden Zustand umgehen wollen und links jene, die ihn überwinden wollen.

Und weil diese Gesässgeografie mit den tatsächlichen politischen Herausforderungen immer weniger zu tun hat, führt die Gleichung „rechts gleich konservativ“, „links gleich fortschrittlich“, in die Irre.

„Sind Sie konservativ?“
(dresdeneins.tv, Video, 14:46 Minuten, vom 21. September 2010)

Maientage in der Bundespressekonferenz

Die Bundespressekonferenz in Berlin im Mai 2010 (Text auf journalist.de).

Ulrich Wilhelm (Bild: Bundesregierung, Sandra Steins)

Die Beantwortungsmaschine
Mittwoch, 19. Mai 2010

Am Osteingang der Bundespressekonferenz sehe ich den Portier ein offenbar bekanntes Gesicht herzlich begrüssen, mich aber blickt er finster an, als ich ihm mehrfach sage, dass ich zur Bundespressekonferenz möchte. “Ja, aber an WELCHE Konferenz denn?”, will er wissen. Erst als ich die ausgedruckten Akkreditierungsunterlagen finde, hellt sich sein Gesicht etwas auf und er führt mich zur Büroleiterin Roswitha Kreutzmann. Dass ich fünf Minuten zuvor problemlos durch den Westeingang hineingekommen bin und mir bereits einen Überblick verschafft habe, sage ich ihm nicht. Mit dem Segen von Frau Kreutzmann darf ich mich in eine bereits eröffnete Konferenz setzen. Aber nur, wenn ich die Mütze ausziehe und keine Fragen stelle.

Gernot Heller, Reuters, will wissen, was hinter der Eilbedürftigkeit zum Rettungsschirm steckt, warum der Bundesrat Sondersitzungen einlegen soll, ob es denn Marktunsicherheiten gebe. Eine Frage zum Fall Jemen: “Gibt es einen neuen Stand zu den Geiseln?” Sprecher Peschke wiederholt, was Aussenminister Westerwelle am Abend zuvor schon sagte. Nein, zu den weiteren vermissten Geiseln gebe es keine neuen Informationen. Er spricht leise und gedämpft. Das Mitgefühl mit den Entführten wird so spürbar. Weitere Nachfragen werden keine gestellt.

Nach der Auflösung der Konferenz bittet Ulrich Wilhelm, Regierungssprecher der Bundesregierung, eine Schulklasse und eine Gruppe internationaler Blogger, die zuvor als Gäste die hintersten Reihen besetzten, nach vorne zu einem informellen Gespräch “unter drei”. Er stellt auf sympathische, kurzweilige und informative Art seine Tätigkeit im Zusammenhang mit der Institution Bundespressekonferenz vor. Beantwortet Fragen eines Schülers zur Dauer des Zivildiensts und Fragen eines nigerianischen Bloggers zu deutschen Firmen in seinem Land. Gibt seinem Erstaunen Ausdruck, dass heute keine Frage zum Atomprogramm im Iran gefallen sei. Und erklärt, das hänge mit der Ausdünnung der Redaktionen zusammen. Nicht jede Redaktion habe noch Spezialisten für jedes Themengebiet – nur die Grossen: Spiegel, Süddeutsche, FAZ und die öffentlich-rechtlichen.

Die Regierung macht den Eindruck einer gut geölten, nahezu perfekt funktionierenden Maschine in eigener Sache. Eine Maschine, die auch mehrteilige Fragen ungerührt aufnimmt, sie bearbeitet und dann ernsthaft beantwortet – natürlich ohne im Idealfall je in Bedrängnis zu kommen. In wenigen Sekunden, als wäre vom Staat nichts anderes zu erwarten. Nichts, wofür es nicht eine vernünftige Erklärung gäbe. Doch: Ist das überhaupt gewünscht von Medien, die vermehrt auf Politzirkus setzen? “Jede Bemerkung zur Sache wird sofort für oder gegen Personen gewertet, am liebsten gegen die Führung”, sagte der abtretende Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch, kürzlich dem “Spiegel”.

Kristina Schröder (Bild: CC Flickr VoThoGrafie)

Finger wie Raketen
Donnerstag, 20. Mai 2010

Fünf TV-Kameras, elf Fotografen und rund dreissig Journalisten erwarten die Familienministerin, die je nach Zeit und Medium Köhler oder Schröder heisst. Heute heisst sie Schröder, Kristina, Dr. Sie betritt, begleitet von den Experten Rürup und Wille, den Raum um 12:01 Uhr, was von den seit Minuten am Podium wartenden Fotografen mit begeistertem Klicken aufgenommen wird. “Frau Minister”, “zu uns”, “nochmal rüber bitte”, rufen sie ihr zu. Um 12:02 wünscht Sitzungsleiterin Antje Sirleschtov vom “Tagesspiegel” einen schönen guten Tag. Die Fotografen nehmen Abstand und verziehen sich in die erste und zweite der mittleren Stuhlreihen, nicht ohne mit dem Klicken aufzuhören.

“Wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass wir unsere Probleme immer mit mehr Geld lösen”, sagt die Ministerin, so ist es am nächsten Tag in der “Süddeutschen Zeitung” nachzulesen. Eine Viertelstunde lang erläutert sie ihren Entwurf zur Familienpflegezeit. Beim Erklären zeigt sie immer wieder den ausgefahrenen, aber angewinkelten Zeigefinger, wie das von Aussenminister Westerwelle bekannt ist (wobei dieser dazu jeweils den Arm im Takt der Argumente hoch und runter bewegt). Sobald Schröder den Finger mal streckt oder andere Gesten macht, geht die Kadenz der Fotoklicks hoch.

Zur Familienpflegezeit berichten dann die meisten Zeitungen nichts, einen kurzen Artikel dazu finde ich in der “Financial Times Deutschland”. Auf Seite 6 der “Süddeutschen Zeitung” ist kein Foto von Schröder abgedruckt, sondern eine Zeichnung, die sie mit etwas naivem Blick, grossen Lippen und Knopfohrringen zeigt. Eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer an den Knöcheln aufeinandertreffenden Fäuste ist ein kleiner Buggy, auf dem ein Männlein ohne Nase sitzt, der einen ungewöhnlich gemusterten Pulli trägt.

Daneben steht ein ausführlicher Artikel mit dem Titel “Das Küken macht Flugversuche”. Um die Familienpflegezeit geht es darin nur am Rande, dem Autor Stefan Braun ist die “überbordende Gestik” aufgefallen – beinahe jeder ihrer Sätze werde von “mächtigen Handbewegungen” begleitet, “wie ein Teenager, der, weil er besonders wichtig sein will, seine Eltern nachmacht”. Und so geht es weiter: “Schröder liefert wenige altkluge Sätze, aber sehr viele altkluge Gesten. Sehr lange ausgestreckte Zeigefinger, sehr weit ausgestreckte Arme, sehr resolut wegschiebende Handflächen. Alles Gesten, die immer zwei Nummern zu groß sind gemessen an ihrer zierlichen Statur und in ihrer derzeitigen politischen Bedeutung. Es sind diese Momente, die einen daran erinnern, dass die Bundestagsabgeordnete doch sehr früh und sehr schnell Karriere gemacht hat.”

So kann man das offenbar sehen. Auf mich wirkte die Ministerin eher so, als wolle sie nichts mehr als natürlich sein, als wolle sie nicht nach Anleitung ihrer PR-Leute funktionieren, als wolle sie sich nicht verbiegen für die Fotografen oder Journalisten. Doch offenbar erwarten die das von ihr. In einem “Spiegel”-Artikel, der einen Besuch von Schröder in einer Kindertagesstätte dokumentiert, wird ein Fotograf mit den Worten ”Jetzt hat sie doch tatsächlich keinen einzigen Kinderkopf getätschelt” zitiert. Und was, wenn sie hätte?

Ist es der Politiker, der maßlos eitel, populistisch und nicht sachorientiert ist? Oder wird er vom Journalist nur so dargestellt? Was für einen Mehrwert haben die unzähligen Bilder von Schröder an dieser Pressekonferenz für den Medienkonsumenten? Ist es nicht die Gier der Presse nach einem möglichen Fehltritt, nach einer unvorteilhaften Pose, nach einem überflüssigen Wort, die den Politiker zu einer unnahbaren, scheinbar seelenlosen Rhetorikmaschine macht? Der ihn alles Eigene, Persönliche, jede menschliche Unsicherheit tief in sich verschliessen lässt? Ist es nicht inkonsequent und auch unfair, nach markigen Worten zu gieren, nur um diese, wenn sie denn fallen, auf das Schärfste zu verurteilen? Die in der Spitzenpolitik gewählten Worte sind unter ständiger Beobachtung der Regierungsmaschine und der Medienmaschine, was zu Auswüchsen führt, von denen man nicht weiß, ob man sie verlachen oder beweinen soll. Man kann es doch nur als Irrsinn bezeichnen, wenn Kanzlerin Merkel den Rücktritt von Bundespräsident Köhler “auf das Allerhärteste” bedauert, wie sie das Ende Mai getan hat.

Neben mir kämpft eine Kamerafrau mit angestrengter Miene mit der Arretierung des Stativs. Zwei Journalisten stellen je eine Frage und verlassen dann gemeinsam den Raum. Dann kniet kommentarlos ein Mann vor mich nieder, das Mikrofon seiner Kamera weist ihn aus als Mitarbeiter von “Das Erste”. Er filmt ein paar Sekunden an mir vorbei in die hinterste Besucherreihe, aus der zuletzt gemurmelte Dikussionen zu vernehmen waren. Vorne spricht Professor Dr. Dr. h.c. Bert Rürup von betriebsspezifischem Humankapital, von Wertkonten und der Kreditausfallversicherung. Alle anwesenden Journalisten schreiben auf einem Spiralblock. Neben einem Kameramann bin der einzige mit Laptop im Saal. In den vier Tagen, in denen ich die Bundespressekonferenz besuche, sehe ich nicht einen Journalisten mit einem Laptop.

Bundespressekonferenz in Berlin (Bild: CC Flickr haasweyregg)

Wasser unter fruchtlosen Bäumen
Freitag, 21. Mai 2010

12 Uhr, Regierungspressekonferenz, anwesend sind elf Journalisten, kein Fotograf, zwei Kameras. Schon nach 13 Minuten gibt es keine weiteren Fragen. Die rund 15 Regierungsvertreter packen ihre Dokumente zusammen und gehen. “Ich hätte noch viel zu erzählen gehabt!”, sagt einer der Sprecher beim Rausgehen zu einer Kollegin. Eine Journalistin, die mehrere Fragen zum Sparpaket stellte, ärgert sich in der Kantine: “Diese Pressekonferenzen sind ja so gähnend leer jeweils”. Vermutlich sitzt wieder ein Großteil der Mitglieder im Büro und schaut am Fernsehen zu. Seit es diesen Service gibt, kommen weniger Journalisten in das von den Architekten Nalbach + Nalbach gestaltete Gebäude. Es wurde im April 2000 nach zwei Jahren Bauzeit fertiggestellt. Inhaber ist die Allianz Gruppe.

Im grossen Innenhof stehen vier fruchtlose Bäume, Bucida Buceras, schwarze Olive. Eine breite Treppe führt hinauf ins Glashaus der Journalisten und Sprecher. Man hat sich bemüht um “warme” Farben: am Boden liegt ein hellroter Teppich, das im Gebäude verwendete Holz ist von der Hemlock-Tanne und im Hintergrund der Politiker scheint ein ausgeklügeltes Blau, das sie im idealen Kontrast erscheinen lässt. Unter der Treppe wird zu fairen Preisen Caesar Salad, Fisch und Reis, Kaffee und Teilchen angeboten. Gestalterischer Höhepunkt ist der Wassergraben zwischen Hof und Bar, der mit einzelnen, freistehenden Quadersteinen besetzt ist. Die leuchteten früher auch mal, vor allem aber sind sie leicht zu verpassen, wenn man sich nicht achtet. Roswitha Kreutzmann hat mehr als einen nassen Fuss gesehen: “Da latscht regelmässig jemand rein, vielleicht einmal im Jahr”.

Per Internet sind die Pressekonferenzen der Regierung, anders als in der Schweiz beispielsweise, noch nicht zu sehen. Aber es mache ja durchaus Sinn, wenn die Leute vor Ort seien, sagt Werner Gößling vom ZDF, schwarzer Anzug, rote Krawatte mit schwarzen Querstreifen, Brille mit Goldrand, grau melierte Haare, Vorsitzender der BPK seit 2003 (bei den im März 2011 anstehenden Wahlen wird er aus Altersgründen nicht mehr kandidieren). Fragen müssen ja gestellt werden, sagt er. Und gewisse Diskussionen liessen sich eben von Mensch zu Mensch am besten lösen. Ausserdem habe ein Sprecher, zu dem man persönlichen Kontakt pflege, immer mal mehr Informationen. Durch die seit den 1970er-Jahren zugelassenen TV-Kameras hätten die Regierungssprecher an Bedeutung eingebüsst. “Die Minister und Regierungschefs wollen das selber machen. Und bei den TV-Stationen ist immer alles darauf ausgerichtet, einen O-Ton der wichtigen Minister und der Kanzlerin haben.” Auch wenn der Sprecher des Aussenministeriums an der Konferenz um 11:30 Uhr orientiert, so tritt der Aussenminister um 13 Uhr nochmals selbst vor die Mikrophone. “Im Fernsehen müssen sie die Nachrichten so gestalten, dass der Zuschauer sie ansieht. Da brauchen sie auch abwechslungsreiche Beiträge. Wenn hochrangige Leute auftreten, dann haben die Zuschauer das Gefühl, das sei wichtig.” Zu Artikeln, die der BPK eine schwindende Bedeutung attestieren, sagt Gößling: “Solche Zeitungsartikel gab es schon in den 50er-Jahren zu lesen. Das ist ein Mißverständnis: Die wichtigen Entwicklungen haben sich weder früher noch heute hier ereignet.”

Karussell an den Neuköllner Maientagen (Bild: CC Flickr onnola)

Auf dem Karussell
Epilog

Der Name Bundespressekonferenz ist irreleitend. Es handelt sich nicht um eine Institution der Bundesregierung (das ist das Bundespresseamt), sondern um einen Zusammenschluss von Hauptstadtkorrespondenten, die gemäß Statuten Deutsche sein müssen und ihre Tätigkeit hauptberuflich ausüben. Geändert wird der Name vorerst nicht – der letzte Versuch zur namentlichen Emanzipation mit einem Bindestrich (Bundes-Pressekonferenz) setzte sich nicht durch und wurde wieder rückgängig gemacht. Die Jahre nach der Gründung am 11. Oktober 1949 in Bonn wurde noch eifrig geraucht. Zuerst überall, auch auf dem Podium. Dann in Teilbereichen des Saals. Dann nur noch vor der Tür. Und seit einiger Zeit gar nicht mehr. Werner Gößling steht auf und greift sich einen Stuhl in der Zimmerecke. “Sehen Sie, das ist ein Originalstuhl aus Bonn, hier hinten an der Lehne ist der Aschenbecher montiert, für den Hintermann.”

Im Mitgliederverzeichnis finden sich von Nayhauß-Cormòns, Mainhardt Graf von (Freier Journalist) über Bannas, Günter (Frankfurter Allgemeine Zeitung) bis zu Wollschläger, Karin (KNA Katholische Nachrichten-Agentur) um die 900 Personen, die einen Monatsbeitrag von 20 Euro (freie Journalisten) oder 30 Euro (angestellte Journalisten) bezahlen. Aktiv seien rund 600, sagt mir Gößling, etwa so viele wie gewählte Parlamentarier. Dagegen steht die geschätzte Zahl der Lobbyisten in Berlin: 5000. Auf ein aktives BPK-Mitglied, auf einen Parlamentarier treffen also rund acht Lobbyisten.

Die Politiker, die Journalisten, die Lobbyisten. Sie sind nur ein kleiner Ausschnitt des Volks. Ein vergleichsweise privilegierter Haufen, der von Anlass zu Anlass hetzt und zwischendurch in Hinterzimmern entspannt. Die Dynamik zwischen ihnen bestimmt jedes einzelne Leben in Deutschland und auch anderswo. Journalisten setzen Politiker auf das Personalkarussell und lassen es immer schneller drehen, mit Gewinnern heute und Verlieren morgen. Politiker, die angeblich Gesten machen “wie ein Teenager, der, weil er besonders wichtig sein will, seine Eltern nachmacht”. Politiker, die meinen, Wähler gewinnen zu können, in dem sie ihnen Luftballone schenken. Politiker, die meinen, alles regeln zu können, wenn nur genügend Geld vorhanden sind. Doch was kann ein Mensch, dem die Rente gekürzt wurde, mit Gewinnern und Verlierern in der Spitzenpolitik anfangen? Die haben doch überhaupt nichts mit seinem Leben zu tun.

Die Tradition, dass Politiker mehrmals wöchentlich an eine Konferenz eingeladen werden, die sich durch ihre Mitglieder trägt und so finanziell unabhängig und ideologisch breit abgestützt ist, kann nur als wertvoll und erhaltenswert bezeichnet werden. Die Frage ist, wie sich die Institution dem Medienwandel gegenüber verhalten wird. Und wie sie sich entwickeln wird unter dem zunehmenden Druck von Kosten, Klickzahlen und Auflage, unter dem Verlage stehen. Noch steht die BPK wie ein grosser grauer Block im Parlamentsviertel. Darum herum stehen die vielen Journalisten, die Bundespolitik als Seifenoper inszenieren. Und die Bürger, die das mit Aufmerksamkeit belohnen.

Bild 1: Bundesregierung, Sandra Steins (bundesbildstelle.de)
Bild 2: CC Flickr/VoThoGrafie, CC BY-Lizenz.
Bild 3: CC Flickr/haasweyregg, CC BY-Lizenz.
Bild 4: CC Flickr/onnola, CC BY-SA-Lizenz.