Schlagwort-Archive: Neutralität

Der Freisinn ist kriegslustig

Letzten Donnerstag am Wirtschaftspodium des UBS Center for Economics in Society: Das Publikum im Zürcher Kongresshaus soll per Online-Abstimmung auf den Satz «Die Mitgliedschaft in einem Verteidigungsbündnis würde uns mehr Sicherheit bringen als die Beibehaltung der Neutralität» reagieren. Naheliegenderweise ist dieses Verteidigungsbündnis die NATO. Dass sich fast die Hälfte im Saal für eine Mitgliedschaft begeistern kann, ist für mich eine faustdicke Überraschung. Die in der Bundesverfassung verankerte Neutralität scheint bei diesem wirtschafts- und europafreundlichen, vorwiegend freisinnigen Publikum passé zu sein. Und ein NATO-Beitritt denkbar.

FDP-Präsident Thierry Burkart legt tags darauf in der NZZ nach: «Die Sicht der Schweiz als sich autonom verteidigender Igel ist nicht mehr adäquat für die europäischen Konfliktszenarien des 21. Jahrhunderts». Es brauche zwar keinen Beitritt zur NATO, aber eine viel engere Kooperation mit dem transatlantischen Bündnis.

Überrascht hat mich auch der Positionsbezug des freisinnigen CH-Media-Verlegers Peter Wanner, der in seiner Jugend «Kennedy-Fan» und bekennender 68er war und den Vietnam-Krieg vehement ablehnte. In einem ganzseitigen Leitartikel auf der Frontseite seiner «Aargauer Zeitung» beklagt er 54 Jahre später, dass der Westen im Ukraine-Krieg zögert und hadert, zu wenig entschlossen auftritt. Die Haltung der NATO sei zwar nachvollziehbar, aber «letztlich feige, weil sie die Ukraine in ihrem Freiheitskampf im Stich lässt».

Der zu beobachtende Meinungsumschwung im Freisinn ist aus meiner Sicht leichtsinnig. Artikel 5 des transatlantischen Bündnisses besagt doch klar, dass ein NATO-Mitglied verpflichtet wird, jedem anderen militärisch beizustehen, sobald dieses auf eigenem Boden angegriffen wird. Wären also die Ukraine und die Schweiz bereits NATO-Mitglieder, so hätten Angehörige der Milizarmee in Butscha oder Mariupol kämpfen müssen.

Hat der russische Angriff das Weltgefüge derart verändert, dass die jahrhundertealte Neutralität aufgegeben werden, und Eltern ihre Kinder in einen möglichen Kriegstod fernab der Schweiz schicken sollten? «Friede und Krieg hängen davon ab, ob ein hohes Tier gute Verdauung hat», steht im vor 100 Jahren erschienenen Roman «Ulysses» von James Joyce. Wie es um die Verdauung von Kriegstreiber Wladimir Putin steht, weiss ich nicht. Der Freisinn allerdings schien mir schon besonnener.

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Neutralität ist friedensfördernd

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich gestern Sonntag bereiterklärt, im Rahmen von Friedensverhandlungen mit Russland über einen neutralen Status seines Landes zu sprechen. Er denkt so ernsthaft über eine der russischen Hauptforderungen nach. Die weiteren sind: Nato-Beitrittsverzicht, Anerkennung der östlichen Separatistengebiete als unabhängige Staaten, Anerkennung der Halbinsel Krim als russisch. Voraussetzung für ein Einlenken sei natürlich ein Truppenabzug. Über einen Monat nach Russlands Angriff vom 22. Februar ist das die erste grundlegende Weiterentwicklung des Konflikts. Sollte sich der Aggressor mit dieser Zusicherung wieder zurückziehen, könnte dem Krieg bald ein Ende bereitet werden. Ein Ende, das von den vielen Menschen, die bitter unter den Folgen des Angriffs leiden, ersehnt wird.
 
Der Status der Neutralität, des Neutralseins wird von vielen verachtet. Nur Feiglinge würden keine Stellung beziehen und sich nicht an die Seite der eindeutig erkennbar Guten stellen. Doch das Neutralsein hat betont pazifistische Grundlagen und ist grundsätzlich friedensfördernd. Natürlich ist und bleibt es eine Utopie, dass Verweigerung zu Weltfrieden führt. Und doch finden Kriege vor allem statt, weil Staaten Soldaten zum Angriff zwingen, und weil Krieg finanziert werden kann. Sanktionen sind ein Mittel gegen Aggressionen. Eine Verweigerungshaltung in der Igelstellung – einrollen, verharren, Stacheln ausfahren – aber auch. Auch wenn die Abwehr so nicht gewaltlos erfolgen kann, ist die Haltung doch pazifistisch.
 
Man mag es Glück, Opportunismus oder Feigheit nennen – der letzte Krieg auf Schweizer Boden war der Sonderbundskrieg von 1847. 175 Jahre Frieden. 175 Jahre Freiheit. Und zunehmend auch Wohlstand. Frieden, Freiheit, Wohlstand sind immer im Sinne des Bürgers. Und die Erfolgsbilanz der bewaffneten Neutralität lässt sich sehen. Dass die Schweiz am Wiener Kongress 1815 von den Grossmächten in die Neutralität gezwungen wurde, hat ihr genützt, nicht geschadet.
 
Die Krux bei der Neutralität ist, dass man sie insbesondere dann durchsetzen muss, wenn alle schreien und rufen, man könne gerade jetzt, in dieser Situation keinesfalls und unmöglich neutral bleiben oder werden. Wenn also Ignazio Cassis oder Wolodimir Selenski über Neutralität nachdenken – aus einer komplett unterschiedlichen Ausgangslage – so könnten sie zum gleichen Schluss kommen. Dass nämlich Neutralität, die zu Frieden, Freiheit und Wohlstand führt, durchaus im Sinne des Einzelnen ist. Das Individuum stellt sein persönliches Glück zurecht über Territorialfragen, die Staatenlenker zu ändern versuchen, indem sie junge Männer in den Tod schicken.

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