Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich gestern Sonntag bereiterklärt, im Rahmen von Friedensverhandlungen mit Russland über einen neutralen Status seines Landes zu sprechen. Er denkt so ernsthaft über eine der russischen Hauptforderungen nach. Die weiteren sind: Nato-Beitrittsverzicht, Anerkennung der östlichen Separatistengebiete als unabhängige Staaten, Anerkennung der Halbinsel Krim als russisch. Voraussetzung für ein Einlenken sei natürlich ein Truppenabzug. Über einen Monat nach Russlands Angriff vom 22. Februar ist das die erste grundlegende Weiterentwicklung des Konflikts. Sollte sich der Aggressor mit dieser Zusicherung wieder zurückziehen, könnte dem Krieg bald ein Ende bereitet werden. Ein Ende, das von den vielen Menschen, die bitter unter den Folgen des Angriffs leiden, ersehnt wird.
Der Status der Neutralität, des Neutralseins wird von vielen verachtet. Nur Feiglinge würden keine Stellung beziehen und sich nicht an die Seite der eindeutig erkennbar Guten stellen. Doch das Neutralsein hat betont pazifistische Grundlagen und ist grundsätzlich friedensfördernd. Natürlich ist und bleibt es eine Utopie, dass Verweigerung zu Weltfrieden führt. Und doch finden Kriege vor allem statt, weil Staaten Soldaten zum Angriff zwingen, und weil Krieg finanziert werden kann. Sanktionen sind ein Mittel gegen Aggressionen. Eine Verweigerungshaltung in der Igelstellung – einrollen, verharren, Stacheln ausfahren – aber auch. Auch wenn die Abwehr so nicht gewaltlos erfolgen kann, ist die Haltung doch pazifistisch.
Man mag es Glück, Opportunismus oder Feigheit nennen – der letzte Krieg auf Schweizer Boden war der Sonderbundskrieg von 1847. 175 Jahre Frieden. 175 Jahre Freiheit. Und zunehmend auch Wohlstand. Frieden, Freiheit, Wohlstand sind immer im Sinne des Bürgers. Und die Erfolgsbilanz der bewaffneten Neutralität lässt sich sehen. Dass die Schweiz am Wiener Kongress 1815 von den Grossmächten in die Neutralität gezwungen wurde, hat ihr genützt, nicht geschadet.
Die Krux bei der Neutralität ist, dass man sie insbesondere dann durchsetzen muss, wenn alle schreien und rufen, man könne gerade jetzt, in dieser Situation keinesfalls und unmöglich neutral bleiben oder werden. Wenn also Ignazio Cassis oder Wolodimir Selenski über Neutralität nachdenken – aus einer komplett unterschiedlichen Ausgangslage – so könnten sie zum gleichen Schluss kommen. Dass nämlich Neutralität, die zu Frieden, Freiheit und Wohlstand führt, durchaus im Sinne des Einzelnen ist. Das Individuum stellt sein persönliches Glück zurecht über Territorialfragen, die Staatenlenker zu ändern versuchen, indem sie junge Männer in den Tod schicken.
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