Archiv der Kategorie: Medien

Ignazio ignoriert Irrelevantes

Dieses Buch hier gibt’s nicht wirklich; es ist eine Erfindung von Marco Ratschiller, dem ehemaligen Chefredaktor des Nebelspalters.

Wahr hingegen ist, dass Bundesrat Ignazio Cassis kürzlich öffentlich sagte, er lese keine Zeitungen mehr, das lenke ihn nur ab; und natürlich war der Aufschrei der Journalisten laut.

Wörtlich sagte Cassis über die Zeitungen:

«Sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um voranzukommen und die richtigen Dinge zu tun. Und seit ich sie nicht mehr lese, habe ich dreimal so viel Kraft.»

Das EDA-Kommunikationsteam versuchte darauf, die Aussage halb zurückzunehmen; wie alle Bundesräte lese Cassis natürlich einen von diesem seinem Team zusammengestellten Medienspiegel.

Die Frage aber bleibt: Ist es richtig, dass «Ignorazio» Cassis Zeitungen ignoriert? Wägen wir es ab:

Fokussieren, fokussieren, fokussieren: Auch ein Bundesrat zweifelt mitunter an sich und an seiner Linie: Wer dazu neigt, jeweils die Haltung der Person einzunehmen, die er zuletzt gesprochen hat oder des Artikels, den er zuletzt gelesen hat, muss seinen Fokus sehr gezielt einstellen und darf sich nicht ablenken lassen. Ist doch vieles von dem, was Medien zur grossen Geschichte aufblasen, relativ irrelevant (und nach wenigen Wochen wieder vergessen).

Nicht die privaten Medien stören: Natürlich ist Kritik mühsam und manchmal nur schwer zu ertragen, vor allem, wenn sie unberechtigt ist; aber ein Cassis hat das auszuhalten, als Liberaler per se und als Bundesrat sowieso. Das Problem im Mediensystem (und das sollte ein freisinniger Bundesrat eigentlich noch im Schlaf aufsagen können) sind nicht die privaten Medien oder die Äusserungen der Bürger. Es sind die aufgeblähten öffentlich-rechtlichen Medien sowie der Kommunikationsapparat seines eigenen Departements.

Die Medien wandeln sich: Die etablierten Medien sind nicht mehr das Mediensystem, sondern nur noch ein Teil davon, ein kleiner werdender Teil. Natürlich sind und bleiben Zeitungen weiterhin wichtig. Aber niemand muss glauben, dass man nichts erreichen könne, wenn sie überwiegend gegen einen stehen – die SVP unter Blocher hat das schon lange vor Trump bewiesen. Auch die «Flugblattaffäre» rund um Hubert Aiwanger in Bayern hat gerade gezeigt, was breite Kritik auch auslösen kann: nämlich ein 5-Prozent-Plus in den Wahlumfragen für die Freien Wähler. Mutige Freisinnige, die auch mal sagen, was sie denken, werden bei den Wählern mit Sicherheit viel mehr Zuspruch erhalten als allseits angepasste Leisetreter. Niemand, aber wirklich niemand braucht verzagte und anpasserische Liberale. Freiheit braucht Leidenschaft!

Den eigenen Weg gehen: Wer stark ist, geht seinen Weg, was immer die anderen sagen, was immer die Medien schreiben. Während die einen ihre Kraft aus der Ablehnung ziehen, ignorieren die anderen einfach ihre Kritiker. Vom Naturell her scheint Cassis zur zweiten Fraktion zu gehören. Sein Ausbruch kann auch als Pionier-, ja Führungsarbeit angesehen werden: Wenn sogar ein FDP-Bundesrat negativer Berichterstattung trotzt, dann muss auch der kleine FDP-Kantonsrat oder -Gemeinderat keine Angst haben. Schliesslich zittert keine Partei so sehr vor grünlinken Journalisten wie die FDP – was natürlich grundfalsch ist.

Neu ist das alles nicht: Vergisst Cassis all diese «News», so akzeptiert er nur den von Rolf Dobelli 2011 im «Schweizer Monat» lancierten Aufruf: Vergessen Sie die News!

Wer sich nicht ablenken lässt, arbeitet effizienter? Das wusste doch schon die Grossmutter. Aber wer glaubt der schon?

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Reden ohne Filter gehört zur Freiheit dazu

Vergangene Woche hat «Die Zeit» Privatnachrichten veröffentlicht, die Mathias Döpfner, CEO und Mitinhaber des deutschen Axel-Springer-Verlags, in den letzten Jahren im Glauben verschickte, dass sie zur privaten Kommunikation gehören und niemals veröffentlicht werden. Döpfner, der inzwischen um Entschuldigung gebeten hat, dass er mit seinen Worten ­«viele gekränkt, verunsichert oder verletzt habe», dürfte sich gefühlt haben wie Unternehmensgründer Axel Springer.

Dieser wurde nämlich in seinem eigenen Westberliner Büro vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR abgehört, wie das die 43minütige TV-Doku «Bespitzelt Springer! Wie die Stasi einen Medienkonzern ausspähte» von Tilman Jens 2009 hervorragend zusammenstellte. Die Stasi ging in ihrem Kampf gegen Verleger Axel Springer sogar soweit, ihn von 1968 bis 1970 im DDR-Fernsehen mit einer millionenteuren fünfteiligen TV-Serie von 600 Minuten Länge zu würdigen, in der er als Nichtsnutz, Verlierer und Nazi dargestellt wurde, und dazu als impotent und homosexuell.

Die Losung «Enteignet Springer» der protestierenden Achtundsechziger geht zurück auf DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht, der 1966 die Enteignung des Axel-Springer-Verlags forderte. Heute sind es die Journalisten der konkurrenzierenden Medien, die sich darum bemühen, Döpfner in schlechtem Licht darzustellen. Und die Losung #EnteignetSpringer kursiert auf Twitter. Warum, ist klar: Unter der Führung von Döpfner ist Springer neben der NZZ der einzige grössere deutschsprachige Medienverlag, der eine betont liberale Haltung einnimmt.

Viele sagen nun, ein Mann wie Döpfner hätte wissen müssen, dass seine Privatnachrichten im Zweifel nicht privat bleiben. Und es geradezu naiv war, gegenüber Freunden und Vertrauten ohne Filter vom Leder zu ziehen. Doch die Frage hat Implikationen für uns alle: Wenn ein CEO eines grossen Medienverlags intern nicht mehr kommunizieren kann, ohne dass er fürchten muss, seine Worte eines Tages in der Zeitung zu lesen, heisst das auch etwas für uns alle: Die Gedanken sollen nur noch im Kopf frei sein, und nirgendwo sonst.

Leben wir wirklich frei, wenn …

… jedes privat geäusserte Wort zum Abschuss in die Öffentlichkeit gezerrt werden kann?

… man für unreflektierte, in vermeintlicher Privatsphäre geäusserte Aussagen um Entschuldigung bitten muss?

… man nur noch zu Hause mit dem Ehepartner ohne Filter reden kann?

Ein Ende des Lebens ohne Filter wäre gefährlich. Denn die wirklich guten Ideen poppen oft erst dann auf, wenn man loslässt und die Kontrolle abgibt. Aufkommende Ideen nicht gleich zensiert, sondern zulässt. Sie treiben lässt und im Dialog ausprobiert. Sie durch Rückmeldungen verfeinert und verbessert. Und sie am Schluss dann, klarifiziert, publiziert.

Was Döpfner gemacht hat, wird von der Schweizer Bundesverfassung gleich mehrfach geschützt. «Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten», heisst es in Artikel 16. «Zensur ist verboten» und «Das Redaktionsgeheimnis ist gewährleistet» hält Artikel 17 fest.

Döpfner hat um Entschuldigung gebeten, dass er gekränkt, verunsichert und verletzt hat. Und nicht, dass er die Meinungs- und Medienfreiheit genutzt hat. Richtig so.

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Die Ukraine steht kurz vor dem Sieg

Wer westliche Medien über den Verlauf des Kriegs in der Ukraine konsumiert, wähnt sich seit rund einem Jahr kurz vor dem endgültigen Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte.

In der gedruckten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) trugen die Artikel in den letzten 12 Monaten etwa diese Titel:

«Der Krieg läuft schlecht für Russland» (1. März 2022)
«Drohnen sind ein Schwachpunkt der Russen» (16. März 2022)
«Kann der Kreml die vielen Verluste verkraften?» (22. März 2022)
«Russisches Landungsschiff versenkt: Schwerer Schlag für Putins Marine» (25. März 2022)
«Die russische Armee sitzt fest» (30. März 2022)
«Russland hat die Schlacht um Kiew verloren» (2. April 2022)
«Putins Elitesoldaten werden entzaubert» (8. April 2022)
«Kiew trotzt der russischen Bedrohung» (11. April 2022)
«Kein rascher Sieg für Putin in Sicht» (30. April 2022)
«Das grösste Land der Welt hat zu wenig Soldaten» (6. Mai 2022)
«Ukraine überrascht mit Gegenoffensive» (9. Mai 2022)
«Keine neuen Ideen an der Kremlmauer» (10. Mai 2022)
«Die Ukrainer wehren sich erfolgreich» (20. Mai 2022)
«Auch im Donbass kommt Putin kaum voran» (20. Mai 2022)
«Charkiw kann für die Russen zum Problem werden» (4. Juni 2022)
«Russland zieht sich von der Schlangeninsel zurück» (1. Juli 2022)
«Putin hat verloren» (27. August 2022)
«Russland versucht, Zeit zu gewinnen» (29. August 2022)
«Ukrainer rücken im Norden vor – Putins Truppen wirken überrumpelt» (8. September 2022)
«Russlands Besatzungsregime taumelt» (10. September 2022)
«Wladimir Putin blendet die Realität einfach aus» (12. September 2022)
«Russlands Militär auf dem Rückzug» (12. September 2022)
«Russland hinterlässt ein gigantisches Waffenarsenal» (13. September 2022)
«Russland bleibt selbst- und fremdgefährdend» (19. September 2022)
«Der Krieg kommt nach Russland» (19. September 2022)
«Putins Kehrtwende kommt zu spät» (22. September 2022)
«Keine Angst vor Russland» (23. September 2022)
«Russen auf der Flucht vor Putin» (29. September 2022)
«Putins letzte Karte» (1. Oktober 2022)
«Putins Landraub trügt» (1. Oktober 2022)
«Russland verschlechtert seine Zukunftsaussichten» (3. Oktober 2022)
«Wenn Moskau schwächelt» (6. Oktober 2022)
«Der Angriff auf die Krim-Brücke zeigt die Schwäche der russischen Armee» (10. Oktober 2022)
«Schlag gegen Putins Prestigebrücke»  (10. Oktober 2022)
«Russlands Frontstadt unter Beschuss» (20. Oktober 2022)
«Die russischen Angreifer erleiden hohe Verluste» (9. November 2022)
«Russland zieht sich aus Cherson zurück» (10. November 2022)
«Feldzug gegen die Vernunft» (19. November 2022)
«Putin steht am Abgrund» (21. November 2022)
«Nur ein grosser Schlag kann Putin noch retten» (6. Dezember 2022)
«Russlands trügerische Selbstdarstellung» (13. Dezember 2022)
«Putin agiert hilflos» (29. Dezember 2022)
«Russland erlebt eine der blutigsten Nächte» (3. Januar 2023)
«Ein Desaster für Moskaus Armee» (4. Januar 2023)
«Wie die Ukraine die russischen Luftangriffe abwehrt» (6. Januar 2023)
«Die Kampftruppe Wagner erleidet Rückschläge fern der Front» (20. Februar 2023)

«Was für eine willkürliche und überhaupt nicht vollständige Auswahl!», werden nun einige einwenden. Zurecht, denn es gab auch andere Titel. Nur viel, viel weniger:

«Russische Offensive kaum zu stoppen» (4. März 2022)
«Die letzten Verteidiger von Mariupol kapitulieren» (18. Mai 2022)
«Der russische Zangenangriff wird enger und enger» (28. Mai 2022)
«Die Russen kontrollieren jetzt die ganze Region Luhansk» (4. Juli 2022)
«Russlands Feuerwalze rollt weiter» (25. Juli 2022)
«Der Nato gehen die Granaten aus» (21. Dezember 2022)
«Schwere Kriegsphase für Kiew» (19. Januar 2023)
«Die Ukraine gerät in die Defensive» (6. Februar 2023)
«Die Ukraine braucht mehr Munition» (15. Februar 2023)

Die Entwicklung des Kriegsgeschehens, ebenfalls dokumentiert von der NZZ, zeigt, dass es sich bei vielen Titeln im besten Fall um einen Journalismus der Hoffnung handelt: Russland besetzt die ostukrainischen Gebiete inklusive Krim weiterhin erfolgreich und stabil. Dass es anders sein möge, ist Wunschdenken von Journalisten, die sich eine andere Lage herbeisehnen. Darüber geschrieben hat immerhin einer in der NZZ – Feuilletonchef Benedict Neff:

«Wie Medien die Lage der Ukraine schönschreiben» (10. Juni 2022)
«Die Fieberkurve des Krieges» (9. Februar 2023)

Doch an der Haltung des NZZ-Chefredaktors Eric Gujer und des NZZ-Auslandchefs Peter Rásonyi wird sich so bald wohl nichts ändern. In ihren Augen steht die Ukraine ganz offenbar kurz vor dem Sieg. Während Russland weiterhin alles falsch macht, und die Niederlage nur aus Trotz nicht einräumt.

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Belästigung bei den #MeToo-Experten

In der Schweiz gibt es vielleicht 10 000 bis 15 000 Menschen, die ihr Auskommen mit Journalismus bestreiten. Sie stellen gerade mal 0,25 Prozent der über 5,1 Millionen Erwerbstätigen. Doch Journalisten berichten überdurschnittlich oft über die eigene Branche. Weil sich narzisstische Journalisten gerne selbst bespiegeln, aber auch, weil über die Medien Macht und Einfluss ausgeübt wird.

So passiert das auch in der neusten Ausgabe des «Spiegels», in der eine langjährige Redaktorin des wöchentlich erscheinenden «Magazins», Anuschka Roshani, über dessen langjährigen Chefredaktor, Finn Canonica, auspackt – worauf Blick, Zeit, NZZ, Süddeutsche, und viele mehr sofort ausführlich berichten.

Wie aus der noch am Wochenende veröffentlichten Zusammenfassung des von Arbeitgeberin Tamedia in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts von Mai 2022 herauskommt, hatte sich Anuschka Roshani im November 2020 per Blindbewerbung beim Verleger auf den Job ihres Chefs beworben – diesen aber nicht erhalten. Später folgten längere Krankschreibungen beider Beteiligten. Roshani arbeitete von 2002 bis 2022 für «Das Magazin», Canonica schrieb seinen ersten «Magazin»-Text 1997 und war Chefredaktor von 2007 bis 2022.

Dass sich jemand wie Finn Canonica so lange in der Chefposition halten konnte, hat auch mit seinem Umfeld zu tun. Die meisten der nun öffentlich gegen ihn geäusserten, durchaus nicht harmlosen, wohl aber auch nicht strafbaren Vorwürfe sind seit vielen Jahren bestens bekannt, in der Redaktion, aber auch weit darüber hinaus. Wie bei ähnlich gelagerten Fällen kursierten entsprechende Geschichten über viele Jahre hinweg.

2017 versuchte etwa WOZ-Journalist Andreas Fagetti, der Sache im Branchenmagazin «Schweizer Journalist» auf den Grund zu gehen, doch niemand redete: «Keine Quelle wollte offen dazu stehen». Genauso ging es auch mir selbst, als ich 2015 als Medienjournalist versuchte, die Vorwürfe gegen Canonica zu erhärten: Weil niemand bereit war, die Kritik öffentlich zu äussern, kam die Geschichte nicht zustande. Auch die öffentliche Anklage von Roshani kommt nach 18 Jahren Zusammenarbeit – was ein fürchterlich langer Leidensweg ist – reichlich spät.

Dass sich dieser Fall der Belästigung in einer Redaktion abspielt, die Woche für Woche als moralische Instanz in allen Fragen des korrekten Zusammenlebens der Geschlechter auftritt, irritiert. Es ist der publizistische Vatikan für #MeToo-Fragen, der von #MeToo-Vorwürfen erschüttert wird. 2021 erhielten zwei «Magazin»-Autoren den Zürcher Journalistenpreis für die «Magglingen-Protokolle», eine Recherche über missbrauchte Kunstturnerinnen.

Wie die Vorgesetzten von Canonica in der Verantwortung stehen und seit wann sie was gewusst haben, ist für die Öffentlichkeit schwierig zu beurteilen. Der ständige Unfrieden in der Redaktion war ihnen aber durchaus bekannt. Gemäss Fagetti sollen sie etwa 20 000 Franken ausgegeben haben, nur um abzuklären, ob ein Redaktor den Computer von Chefredaktor Canonica gehackt hatte. Ergebnis: Das war nicht der Fall. Dass sich Tamedia am Ende sowohl von Canonica als auch von Roshani trennte, ist wohl richtig. Doch der Entscheid kommt viel zu spät.

Der vielleicht zäheste und mutigste Journalist des Westens sitzt währenddessen weiterhin im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Seit bald vier Jahren, ohne Erklärung und Anklage: Julian Assange. Während Journalisten Nabelschau betreiben, geht er nach und nach vergessen.

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