Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen,
aber keine Bildung den natürlichen Verstand.
Arthur Schopenhauer
Es gibt eine politische Forderung, die breite Unterstützung findet und kaum je in Zweifel gezogen wird. Die Sätze dazu lauten so: “Unser vielseitiges und hochwertiges Bildungsangebot ist das Öl und Gold der Schweiz.” (Christine Egerszegi-Obrist, FDP) – “Wir brauchen keine Mythen und keine Mauern um unser Land. Wir brauchen mehr Bildung.” (Kathy Ricklin, CVP) – “Bildung ist unser wichtigster Rohstoff.” (Jacqueline Fehr, SPS) – „Wohlstand für alle heißt heute und morgen: Bildung für alle.” (Angela Merkel, CDU).
Mangelnde Bildung wird mit Problemen verknüpft. So äusserte sich der langjährige Integrationsbeauftragte des Kantons Basel-Stadt, Thomas Kessler (GPS), 2001 im “Beobachter” wie folgt: “Nach allen Erkenntnissen der Kriminologie ist der typische Gewaltkriminelle ein junger Mann mit mangelhafter Bildung und entsprechend schlechten Berufsaussichten”.
Führt also mehr Bildung zu weniger gesellschaftlichen Problemen? Wie schön wäre es, wenn es keine Kinder mehr gäbe, die den Unterricht stören oder andere Kinder mobben. Keine Jugendliche, die öfters vor Gericht stehen als in der Schule auftauchen. Keine Ehemänner, die ihre Ehefrauen in der Wohnung einsperren. Keine religiösen Fanatiker, die Terroranschläge verüben.
Doch neusten Informationen gemäss kommen einige der verhaltensauffälligsten und den geordneten Schulbetrieb am meisten gefährdenden Schulkinder heute aus gut bis sehr gut gebildeten Familien, die ihren Sprösslingen viel Zeit und Aufmerksamkeit zuteil kommen lassen. Michael Winterhoff, Kinderpsychiater aus Bonn und Autor des seit Wochen die deutschen Bestsellerlisten besetzenden Buch “Warum unsere Kinder Tyrannen werden”, sagte der Zeitschrift “Cicero”: “In meiner kinderpsychatrischen Praxis habe ich es meist mit intakten Familien zu tun, mit liebenden Eltern, mit Geschwisterkindern. Die Verhaltensauffälligkeiten reichen hinein in die Mitte der Gesellschaft, auch und gerade im sogenannten bürgerlichen Milieu.”
Der russische Schriftsteller Leo Tolstoj lehnte einen obligatorischen Schulbesuch ab – die Kinder sollten freiwillig zur Schule kommen und weder von Strafe noch Ermunterung manipuliert werden. Und so ist es: Kinder sind wissbegierig – das wird jeder bestätigen können, der schon mal mit einem vierjährigen Kind zu tun hatte. So sind wir alle. Wir nehmen auf, was uns interessiert. Die allermeisten anderen Informationen nehmen nur im Kurzzeitgedächtnis Einsitz. Sie bleiben solange, bis die Prüfung, der Vortrag, die Sitzung vorbei ist. Spätestens wenn das Schuljahr vorbei ist, geht ein Grossteil des vermeintlich angeeigneten Wissens für immer verloren.
Wer den unbedingten Wunsch verspürt, das nur begrenzt alltagsnützliche Fach Mathematik nicht über das essentielle Erlernen der Grundrechenarten hinaus zu verfolgen, hat diese Freiheit nicht. Er muss sich, mangelndes Talent und Interesse negierend, im Rahmen seiner Schulpflicht mit geometrischen und algebraischen Problemen auseinandersetzen. Die ideale Idee der vertieften Allgemeinbildung schneidet sich aber schon längst mit dem in den Schulen seit Jahren umgesetzten Trend der Individualisierung.
Die Fragen seien erlaubt: Muss ein virtuos schneidender Coiffeurlehrling durch die Abschlussprüfung rasseln, weil er die chemischen Formeln zum Haarefärben nicht begreift? Braucht jemand, der Hebamme werden will, eine bestandene Maturitätsprüfung, um überhaupt zur Aufnahmeprüfung der Hebammenschule zugelassen zu werden? Geht die Karriere im mittleren Kader ohne irgendeine Ausbildung tatsächlich nicht vorwärts, auch wenn eine Befähigung für höhere Aufgaben gegeben ist?
Es gab es noch nie so viel Bildung wie heute. Die Bevölkerung hat nicht nur das Recht zum gemeinschaftsgeförderten Schulbesuch, sondern die Pflicht dazu. Heerscharen von zunehmend weiblichen Studenten verbringen Jahrzehnte an Schuleinrichtungen aller Art – manche von ihnen schliessen diese Zeit mit der Geburt eines Kindes ab oder nehmen einen Job an, für den sich ihre bisherige Bildung als gänzlich unnütz zeigt.
Die Studenten stehen sich an den Universitäten gegenseitig auf den Füssen rum. Wer einen Platz im Hörsaal ergattert hat, schreibt mit, was der lehrende Professor erzählt. Hat er ein Fach wie Medienwissenschaft belegt, dann kann es gut sein, dass ihm etwas erzählt wird, das vor dem Internetzeitalter durchaus mal wahr war.
Überhaupt, das Internet: In wenigen Sekunden liefert es den nach Wissen fragenden Antworten. Unzählige Quellen sind nahezu sofort verfügbar. Das, was es braucht, um diese Quellen einzuordnen, nämlich Medienkompetenz, wird gar nicht gelehrt. Einerseits, weil neue Entwicklungen den aktuellen Wissensstand ständig überholen, andererseits, weil Medienkompetenz in der als Elite bekannten Schicht oft gar nicht vorhanden ist. Man möchte sich nicht vorstellen, wie Lehrkräfte im fortgeschrittenen Alter zusammen mit Schülern im Computerraum sind – wer kann hier wem was beibringen?
Wer etwas wissen will, hatte noch nie so gute Chancen wie heute, es in Erfahrung zu bringen. Der Weg zu mehr Wissen führt nicht über immer noch mehr Bildungsangebote, sondern über den Zugang zum Internet, zu Datenbanken, zu Bibliotheken; über Kommunikation zwischen beteiligten Parteien sowie über Interesse und Eigeninitiative. Es braucht nicht mehr Geld für Bildung, sondern generell weniger Regulierung. Schüler, die selbst aktiv werden. Und Führungskräfte, die auch mal mutige Entscheide treffen.
Dieser Beitrag erschien in redigierter Form in der Zeitschrift „Studiversum“ (Ausgabe 12/2009).
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