Vor den Wahlen 2015 sieht die Karikatur der politischen Lage so aus: Auf der einen Seite die SVP wählenden Hinterwäldler, die sich störrisch jedem Fortschritt verweigern, darauf drängen, sich vom Rest der Welt abzuschotten und lieber untergehen, als in der Zukunft anzukommen. Auf der anderen Seite die urbane, progressive Elite, deren bahnbrechende Ideen in den Ketten der Direkten Demokratie liegen und die deshalb das Land nicht in eine gloriose internationale oder wenigstens europäische Zukunft führen können. Es ist deshalb eine Karikatur, weil das, was als Progression (Fortschreiten, Weiterentwicklung) verkauft wird, eine Regression (Rückgang, Zurückfallen) wäre. Jene besonderen Errungenschaften, die sich die Schweiz im 19. Jahrhundert in die Verfassung geschrieben hat, machen den Schweizer Staat bis heute zum fortschrittlichsten Staatswesen weit und breit.
Erstens setzt die Schweiz als eines der wenigen Länder der Welt die in der Bundesverfassung verankerte Direkte Demokratie (Art. 136 ff.) konkret und folgenreich um. Als Nicht-EU-Mitglied kann sie in allen Fragen, die nicht auch die Nachbarn betreffen, völlig autonom entscheiden. Zweitens schützt die Idee der Neutralität (Art. 173, 185) zwar nicht vor Angriffen, aber, wie sich in der Vergangenheit mehrfach erwiesen hat, vor einer Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen. Drittens wirkt der zentrale Machtansprüche beschränkende Föderalismus (Art. 3): Denn wenn zentral statt lokal entschieden wird, wenn kleine Zellen zu viel Macht an grosse Zellen abgeben müssen, wenn also zu viel Oben auf Kosten von Unten existiert, wiederholt sich immer wieder dies: Von oben herab geführte Länder neigen dazu, durch hohe Staatsausgaben und schwache Wirtschaft in Armut zu verfallen – bauen sie Mauern, dann, um ihre Bürger zu behalten. Von unten regierte Länder dagegen begrenzen eher die Staatsausgaben, was im Idealfall zu einer starken Wirtschaft und zu Wohlstand führt – sie bauen Mauern, um den Ansturm von immer neuen Bürgern zu stoppen.
Die Schweizer Erfolgsbilanz seit der ersten Bundesverfassung 1848 ist beeindruckend: Aus einem Armenhaus ist ein Reichenhaus geworden, aus einem Bauern- und Arbeiterstaat eine moderne Industrienation, aus einem Fluchtland ein Einwanderungsland. Bei internationalen Länder-Rankings aller Art belegt die Schweiz regelmässig vordere Plätze, so 2014: Nummer 1 bei der Innovationsfähigkeit, Nummer 2 bei der Wettbewerbsfähigkeit, Nummer 2 beim Wohlstand, Nummer 3 beim Index für menschliche Entwicklung. Und nun soll es progressiv sein, dieses besondere Staatssystem, für das uns Nicht-Politiker in aller Welt bewundern und beneiden, zu gefährden? Anders gefragt: Ist es ratsam, wenn sich der FC Bayern München Tipps von Mannschaften aus der Challenge League holt? Oder wenn sich ein Roger Federer zwecks Verbesserung des eigenen Tennis einer Trainingsgruppe anschliesst, die irgendwo zwischen ATP-Rang 10 und 200 zu finden ist?
Die angesprochenen Verfassungsartikel und einige mehr würden bedeutungslos, wenn die Schweiz den vermeintlich Progressiven folgen und den Wünschen der ausländischen Eliten nachgeben würde. Wir Schweizer sollten stattdessen die Bürger von anderen Staaten dazu ermuntern, ihren Führungen Mitspracherechte abzutrotzen, ihre Expansionsbestrebungen zurückzubinden, sie zur Zurückhaltung zu verpflichten. Würden beispielsweise deutsche Politiker den Artikel 20 ihres Grundgesetzes („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt“) ernstnehmen, dann müssten sie, was die Direkte Demokratie angeht, schon längst mit der Schweiz gleichziehen. Das wollen sie aber nicht, und warum? Weil es ihre eigene Macht beschränken würde.
Ein echter Fortschritt wäre es, wenn andere Länder dem Vorbild der Schweiz folgen, und nicht umgekehrt. So wie Singapur, ein Staat, der sich trotz strengster Restriktionen einer starken Einwanderung gegenübersieht – und in einigen Bereichen die Schweiz längst überflügelt hat. Singapur und auch die Schweiz können und sollen noch weiter fortschreiten – aber bitte in die richtige Richtung, vorwärts, in die Moderne. Die Lockrufe der vermeintlich Progressiven dürfen unerhört bleiben.
Dieser Text erschien in redigierter Form am 9. April 2015 im „Tages-Anzeiger“.
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