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Wer säuft, hat recht

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Vielleicht ist die Musik gut, aber den Gesang von Coco Rosie kann ich nicht ertragen.

Auf dem Rücken des Punks: „Wer säuft, hat recht“.

Sonntagabend, ein Anruf von einer Frau, die, den Begleitgeräuschen entnehmend, in einem Restaurant sitzt und „Hallooo, hier ist Mutti…“ ruft. Als sie mir die Nummer vortragen will, die sie eingetippt hat, verabschiede ich mich und lege auf.

Ist ja wirklich koestlich, wie ein einziger Schnuurisiech, der aussieht wie ein armer Streber mit Derrickbrille und spricht wie ein Gemeindearbeiter auf Kokain, die ganze Schweiz – rechts wie links – seit Jahren zum Narren haelt. Ein Milliardaer als Mann vom Volk. Ein Schlossbesitzer als Bauer.

Oliver Reichenstein

Schild vor dem deutsch-österreichischen Restaurant: „Dauertiefpreis: 10 Buletten für 5 Euro“.

Das Haus mit dem Regenbogen, von dem Farbe abblättert.

Mein Leben soll

Der Spielplatz mit dem Tipi in der einen und der (mit „Gunpowder“ angeschriebenen) Ranch in der anderen Ecke.

Die Leere, die einen erfüllt, wenn man einen vermissten Gegenstand nach langem Suchen endlich erblickt.

Der Cowboy mit Hut, Schuhen und Mantel im Internetcafé auf der Sonnenallee. Wetter: Leichter Niesel.

Lesestoff im Thai-Imbiss: Der „Ikea 2008 Katalog“ und „handwerk – Magazin der Handwerkskammer Berlin“. Sauber drapiert und beschallt von Thai-Musik. Geht die Tür zu, versinkt man in eine andere Welt.

Nichts gefällt uns als der Kampf, nicht aber der Sieg. Man sieht gern den Kampf der Tiere, aber nicht die Erbitterung des Siegers über den Besiegten. Was wollte man sehen, wenn nicht die Vollendung durch den Sieg, und wenn er da ist, ist man seiner überdrüssig. Ebenso ist es beim Spiel, ebenso beim Suchen der Wahrheit. Man liebt es, bei den Disputen den Streit der Meinungen zu beobachten, aber ganz und gar nicht, die gefundene Wahrheit zu betrachten: damit sie mit Freude bemerkt werde, muss man zeigen, wie sie aus dem Disput entsteht. Ebenso sieht man es mit Vergnügen, wenn zwei entgegengesetzte Leidenschaften aneinandergeraten, aber wenn die eine Herr wird, so ist das nur noch Roheit.

Wir suchen nie die Dinge, sondern das Suchen der Dinge. So sind bei den Schauspielen die glücklichen Szenen, die keine Furcht erregen, nichts wert, noch auch das tiefste hoffnungslose Leiden, noch die tierische Liebe, noch die unerbittliche Strenge.

Blaise Pascal, Gedanken, 184

Die Menschen beschäftigen sich damit, einem Ball oder einem Hasen nachzulaufen. Das ist sogar das Vergnügen der Könige.

Blaise Pascal, Gedanken, 185

Phoenix, fass!

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Je länger ich hier in Berlin die öffentlichen Verkehrsmittel benutze, desto überzeugter bin ich, dass Zeitungen, speziell Gratiszeitungen, nichts Erstrebenswertes sind. Hier lesen die Menschen Bücher oder sie gucken etwas vor sich hin. Manchmal entwickelt sich ein Gespräch. Wenn man um 17 Uhr in Zürich ein volles Abteil mit je einem Heute sieht, so sieht man in Berlin um diese Zeit ein volles Abteil mit je einem Buch. Nicht dass in Büchern immer schlaue Texte stehen, aber Gratiszeitungen, so erfolgreich sie sind, vermüllen den Alltag. Anders die Informationen im Internet, von denen man nicht zwangsweise belästigt wird.

Der Mann um die Vierzig mit dem Karl-May-Buch in der Hand. Am Strassenrand stehend.

Die Frau, die in der S-Bahn mit geschlossenen Augen vor sich hin lächelt, den Rucksack mit dem Diddl dran wie einen Schatz umklammert.

Die andere Frau, die schläft, aber genau bei „Tempelhof“ die Augen aufklappt und aussteigt.

Eine Thüringer Extra Lang. 2 Euro.

„Was, ein Blogger? Blogger akzeptieren wir grundsätzlich keine.“

Die Frau um die Fünfzig im Bus, die Klingeltöne ausprobiert und während Sekunden wie ein DJ der noch verschlafenen Menge einen geilen Bass gibt.

Die Journalistin im Medienbüro, die am Handy plaudert: „Ich hatte drei oder vier Gläser Rotwein. Ich war ja sooo besoffen.“ Etwas später: „Ich hab so viel Restalkohol in der Rübe…“

Der Schnauzbärtige an der IFA mit der Laufschrift auf dem T-Shirt.

Der Mann in der U-Bahn, der sich an die Kante einer Sitzgelegenheit setzt und dann hinter sich blickend auf eine unglaublich sanfte Weise zweimal über den an sich sauberen Sitz wischt. Und sich dann richtig hinsetzt.

Der junge Türke in Neukölln, der laut „Phoenix, fass!“ ruft, als ich an ihm vorbeijogge.

Der Junge, um die 8 oder 9, der mit seinem Vater vom Hertha-Spiel kommt. Aus ihm sprudelt es nur so: „Papa, ich bin ja so glücklich, dass Hertha heute gewonnen hat. (…) Und Wolfsburg hat verloren, verloren, verloooren (…). Ich hab ja nichts gegen Schiris, aber der heute, der war ja sooo schlecht (…). Weisst du, Papa, ich fahr so gern mit dir ins Stadion.“. Dann küsst er seine Hände und sagt: „Papa, ich lieeebe dich einfach.“

Die goldenen High-Heels.

Eine plötzliche Erinnerung an diese Abenteuersendung auf einem französischen TV-Kanal (TF1?): Ushaia. (Gegoogelt: Es ist TF1 und schreibt sich ushuaia – nur echt mit zwei Punkten auf dem i, die ich jetzt aber nicht suchen mag)

Wie mir der türkische Italiener die riesige und fantastisch schmeckende Lasange über die Theke reicht. Als würde man einen Vulkan entgegen nehmen. Vier Euro Fuffzig.

Die Tintenflecken auf dem hellen Lederrucksack der Frau um die Fünfzig. Ich tippe mal auf Lehrerin.

Vor dem Ifa-Ausgang ein engagierter Schlagzeugspieler, alleine. Vor ihm die grosse, offene Box des grössten Beckens mit ein paar Münzen drin.

Die automatische Ansage klappt nicht in der S-Bahn, es wird immer die übernächste Station ausgerufen. Nachdem dreimal „Nächste Station Bundesplatz“ gemeldet wird, knackt es plötzlich in der Leitung. Der Fahrer spricht: „Die nächste Station heisst Heidelberger Platz, nicht Bundesplatz. Der Automat hier ist etwas durcheinander“.

Der Blumenladen „Ewiger Frühling“ an der Sonnenallee.

Haudrauf

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Heute Morgen, kurz nach 8:30 Uhr, verliess ich das Haus, um am nahegelegenen Automat, ein kleiner Raum, der mit „Sparkasse“ angeschrieben ist, „Geld zu ziehen“, wie man hier so sagt. Es war ein sonniger Morgen. Hätte es Vögel gehabt in meiner Strasse zu dieser Zeit – sie hätten bestimmt gezwitschert. Nun erblickte ich einen Mann, der auf der anderen Strassenseite eben die Klingel eines Wohnhauses gedrückt hatte, und, sich rückwärts davon wegbewegend, laut „Ich will jetzt mein Geld!“ rief. Es handelte sich dabei um einen stattlich-korpulenten Handwerker mit kurzen, dunklen Haaren.

Es erschien eine Frau im Eingang, die sich an den Kopf tippte und ihn fragte, warum er denn auf der Strasse rumschreie. Ich zog mein Geld. Als ich wieder zurückkehrte, stand der Mann bei seinem Auto und diskutierte laut mit einem anderen Mann. Dieser war etwas grösser und dürrer, auch er sah aus wie ein Handwerker. Beide hatten nur Augen füreinander, weitgeöffnete, redeten sehr laut und unterstrichen ihre Worte mit allerlei abgehackten Gesten. In die Luft stechende Finger und federnde Absätze zum Beispiel. Es trennte sie nur die geöffnete Wagentüre, hinter der sich der Besucher versteckt hatte. Ein Angriff mit Rückzugsmanöver.

Ich war schon einige Meter an ihnen vorbei, als mich ein Geräusch umdrehen liess. Die beiden waren sich noch näher gekommen und rangen nun miteinander auf dem Gehsteig, verkeilt ineinander. Wir drei waren ganz alleine auf der Strasse. Ich mich entfernend und mich immer wieder umdrehend. Die beiden bald 50jährigen, im stillen Kampf miteinander. Das letzte Bild, bevor ich guter Laune um die Ecke bog und dort in gleichgültige Gesichter mit Alltagssorgen blickte, war der nackte Oberkörper des Feisten, dem vom Dürren das T-Shirt über den Kopf gezogen wurde. Als ich ins Auto stieg und losfuhr, überholte mich ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene. Ich machte Platz.