Hilfe, wie komme ich hier wieder raus?

Im Zeitalter der Transparenz kann man sich auf diskrete Kommunikation nicht verlassen, irgendwann kommt alles an die Öffentlichkeit. Besonders Fehlleistungen wirken im Netz lange nach, doch ist das kein Grund, um zu verzweifeln. Ein Ratgeber für Internetnutzer.

Haben Sie den Mut, auf der Strasse eine Person anzusprechen, ihr Komplimente zu machen und ihr zu sagen, dass Sie am liebsten sofort mit ihr schlafen möchten? Haben Sie den Mut, das am Freitagabend verschickte gepfefferte Rundmail über die schlechte Stimmung in der Firma bei einer Sitzung in der gleichen Härte zu formulieren? Haben Sie den Mut, einen beleidigenden Tweet der angegriffenen Person ins Gesicht zu sagen?

Nein? Dann sollten Sie das auch im Internet nicht tun. Befolgen Sie nur eine Regel, bevor Sie eine Nachricht absenden oder etwas im Netz publizieren, und sei es auch nur ein einzeiliger Kommentar auf Facebook: Senden Sie nur, was Ihnen in physischer Präsenz der behandelten Personen problemlos über die Lippen kommt. Ansonsten verzichten Sie darauf oder formulieren Sie um. Taten, die Sie bereuen könnten, sollten Sie sich generell verkneifen – im Internet aber um so mehr, können Sie doch Ihre Unachtsamkeit und Ihre Fehlleistungen auch Jahre später noch verfolgen. Pseudonyme schützen Sie nicht, denn IP-Adressen können nachverfolgt werden. Verschlüsselte Kommunikation ist nach wie vor technisch anspruchsvoll und wird deshalb nur von einem sehr kleinen Teil aller Nutzer angewendet.

Das Unheil ist bereits angerichtet? Nun denn, stehen Sie dazu: Geschehens ist nicht ungeschehen zu machen. Das eigene Leben als perfekt abgestimmte Symphonie herausragender Erfolge können Sie Ihrem Arbeitgeber verkaufen, mit der Realität hat es nichts zu tun. Stehen Sie zu Ihren Fehlern, ja, auch zu den idiotischen Ex-Freunden und zur Zeit im Gefängnis. Seien Sie kein langweiliger Vertuscher, sondern ein Mensch, der gelebt hat und etwas gelernt. Verspüren Sie den dringenden Wunsch, mit anderen Frauen zu schlafen als mit ihrer Ehefrau? Na dann reden Sie doch mal mit ihr, vielleicht kann Sie das ja verstehen, und es gibt eine Lösung. Wenn Sie in der Vergangenheit etwas getan haben, vom dem Sie wissen, dass es Ihre Karriere gefährden könnte, ist es je nach Lage sogar das Beste, die der Öffentlichkeit noch unbekannte Problemlage selbst aktiv zu thematisieren: Auf der eigenen Website oder durch einen Journalist, bei dem Sie sicher sein können, dass er die Fakten korrekt darstellt.

Es gibt eine Person oder ein Medium, die Ihnen das Leben durch kritische Berichte schwer macht? Reagieren Sie darauf! Stellen Sie Fakten richtig, kommentieren Sie Blogeinträge, erwirken Sie Gegendarstellungen, reden Sie mit Ihren Kritikern. Das Problem ist, dass die Kritik vollumfänglich zutrifft? Dann akzeptieren Sie die Kritik und verändern Sie sich selbst zum Besseren. Das Problem ist weiter, dass Suchmaschinen diese Kritik in den ersten Ergebnissen anzeigen? Verzweifeln Sie nicht, sondern starten Sie eine Gegenoffensive mit eigenen Beiträgen, ein Blog beispielsweise ist kostenlos und in wenigen Minuten eröffnet.

Sie misstrauen dem Internet und wollen sich komplett zurückziehen? Gut, aber so simpel ist ein «Social Media Suicide» nicht. Wenn Sie ohne Vorwarnung alle ihre Internetkonten löschen, werden Sie Verwunderung und Sorge von Ihrem sozialen Umfeld ernten. Irritierenderweise werden sich so endlich jene melden, von denen Sie schon lange mal wieder hören wollten – zur Inszenierung befähigte Drama-Queens machen das darum auch etwa alle drei Monate. Auf der technischen Seite sind Löschungen aufwändig, aber nicht unmöglich, suicidemachine.org beispielsweise offeriert kostenlos eine automatisierte Löschung der eigenen Nutzerkonten. Wer sein Twitter-Konto deaktiviert, hat seine Nutzerdaten nach dreissig Tagen für immer gelöscht, eine endgültige Löschung aller Daten bietet inzwischen auch Facebook an. Doch spätestens seit den NSA-Enthüllungen dürfte klar sein: Irgendjemand speichert die Daten und die Metadaten meistens. Auch historische Versionen von Websites sind nicht einfach weg, machen Sie sich unter web.archive.org ein Bild. Gleiches gilt für gelöschte Tweets, gelöschte YouTube-Videos, gelöschte Kommentare und vieles mehr.

Für echte Geheimnisse gibt es genau einen sicheren Aufbewahrungsort: Ihren Kopf. Alle kommunizierten Informationen kommen potentiell irgendwann an die Öffentlichkeit. Was im Netz veröffentlicht ist, und sei es auch nur während weniger Sekunden, bleibt potentiell bis zum Ende der Geschichte ein Kulturgut der Menschheit. Die Vorstellung, dass Ihr Eintrag sowieso niemanden interessiert, hat nichts zu tun mit der Frage, ob dieser Eintrag gesammelt, aufbewahrt, erneut publiziert wird, manuell oder automatisiert.

Gehen Sie davon aus, dass es keine diskrete Kommunikation gibt, weder online noch offline. Vertrauen schenken dürfen Sie natürlich dennoch: Ihrer Familie, Ihren Freunden, Ihren Mitarbeitern, Ihrem Anwalt, Ihrem Arzt, Ihrem Webhoster. Falls Sie sich bei einer Casual-Dating-Website als ferrarifahrer79 angemeldet haben und Nacktfotos von pummelbaerli62 positiv bewertet haben, der sich in der weiteren Kommunikation als ihr eigener Schwiegervater herausstellt, dann ist es vielleicht das Einfachste, wenn Sie im Netz alles so lassen, wie es ist. Und selbst einen neuen Namen annehmen.

Der Artikel erschien in der «Weltwoche»-Sommerausgabe 30/2013 vom 24. Juli 2013.

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