Alle Beiträge von Ronnie Grob

Die Ukraine steht kurz vor dem Sieg

Wer westliche Medien über den Verlauf des Kriegs in der Ukraine konsumiert, wähnt sich seit rund einem Jahr kurz vor dem endgültigen Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte.

In der gedruckten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) trugen die Artikel in den letzten 12 Monaten etwa diese Titel:

«Der Krieg läuft schlecht für Russland» (1. März 2022)
«Drohnen sind ein Schwachpunkt der Russen» (16. März 2022)
«Kann der Kreml die vielen Verluste verkraften?» (22. März 2022)
«Russisches Landungsschiff versenkt: Schwerer Schlag für Putins Marine» (25. März 2022)
«Die russische Armee sitzt fest» (30. März 2022)
«Russland hat die Schlacht um Kiew verloren» (2. April 2022)
«Putins Elitesoldaten werden entzaubert» (8. April 2022)
«Kiew trotzt der russischen Bedrohung» (11. April 2022)
«Kein rascher Sieg für Putin in Sicht» (30. April 2022)
«Das grösste Land der Welt hat zu wenig Soldaten» (6. Mai 2022)
«Ukraine überrascht mit Gegenoffensive» (9. Mai 2022)
«Keine neuen Ideen an der Kremlmauer» (10. Mai 2022)
«Die Ukrainer wehren sich erfolgreich» (20. Mai 2022)
«Auch im Donbass kommt Putin kaum voran» (20. Mai 2022)
«Charkiw kann für die Russen zum Problem werden» (4. Juni 2022)
«Russland zieht sich von der Schlangeninsel zurück» (1. Juli 2022)
«Putin hat verloren» (27. August 2022)
«Russland versucht, Zeit zu gewinnen» (29. August 2022)
«Ukrainer rücken im Norden vor – Putins Truppen wirken überrumpelt» (8. September 2022)
«Russlands Besatzungsregime taumelt» (10. September 2022)
«Wladimir Putin blendet die Realität einfach aus» (12. September 2022)
«Russlands Militär auf dem Rückzug» (12. September 2022)
«Russland hinterlässt ein gigantisches Waffenarsenal» (13. September 2022)
«Russland bleibt selbst- und fremdgefährdend» (19. September 2022)
«Der Krieg kommt nach Russland» (19. September 2022)
«Putins Kehrtwende kommt zu spät» (22. September 2022)
«Keine Angst vor Russland» (23. September 2022)
«Russen auf der Flucht vor Putin» (29. September 2022)
«Putins letzte Karte» (1. Oktober 2022)
«Putins Landraub trügt» (1. Oktober 2022)
«Russland verschlechtert seine Zukunftsaussichten» (3. Oktober 2022)
«Wenn Moskau schwächelt» (6. Oktober 2022)
«Der Angriff auf die Krim-Brücke zeigt die Schwäche der russischen Armee» (10. Oktober 2022)
«Schlag gegen Putins Prestigebrücke»  (10. Oktober 2022)
«Russlands Frontstadt unter Beschuss» (20. Oktober 2022)
«Die russischen Angreifer erleiden hohe Verluste» (9. November 2022)
«Russland zieht sich aus Cherson zurück» (10. November 2022)
«Feldzug gegen die Vernunft» (19. November 2022)
«Putin steht am Abgrund» (21. November 2022)
«Nur ein grosser Schlag kann Putin noch retten» (6. Dezember 2022)
«Russlands trügerische Selbstdarstellung» (13. Dezember 2022)
«Putin agiert hilflos» (29. Dezember 2022)
«Russland erlebt eine der blutigsten Nächte» (3. Januar 2023)
«Ein Desaster für Moskaus Armee» (4. Januar 2023)
«Wie die Ukraine die russischen Luftangriffe abwehrt» (6. Januar 2023)
«Die Kampftruppe Wagner erleidet Rückschläge fern der Front» (20. Februar 2023)

«Was für eine willkürliche und überhaupt nicht vollständige Auswahl!», werden nun einige einwenden. Zurecht, denn es gab auch andere Titel. Nur viel, viel weniger:

«Russische Offensive kaum zu stoppen» (4. März 2022)
«Die letzten Verteidiger von Mariupol kapitulieren» (18. Mai 2022)
«Der russische Zangenangriff wird enger und enger» (28. Mai 2022)
«Die Russen kontrollieren jetzt die ganze Region Luhansk» (4. Juli 2022)
«Russlands Feuerwalze rollt weiter» (25. Juli 2022)
«Der Nato gehen die Granaten aus» (21. Dezember 2022)
«Schwere Kriegsphase für Kiew» (19. Januar 2023)
«Die Ukraine gerät in die Defensive» (6. Februar 2023)
«Die Ukraine braucht mehr Munition» (15. Februar 2023)

Die Entwicklung des Kriegsgeschehens, ebenfalls dokumentiert von der NZZ, zeigt, dass es sich bei vielen Titeln im besten Fall um einen Journalismus der Hoffnung handelt: Russland besetzt die ostukrainischen Gebiete inklusive Krim weiterhin erfolgreich und stabil. Dass es anders sein möge, ist Wunschdenken von Journalisten, die sich eine andere Lage herbeisehnen. Darüber geschrieben hat immerhin einer in der NZZ – Feuilletonchef Benedict Neff:

«Wie Medien die Lage der Ukraine schönschreiben» (10. Juni 2022)
«Die Fieberkurve des Krieges» (9. Februar 2023)

Doch an der Haltung des NZZ-Chefredaktors Eric Gujer und des NZZ-Auslandchefs Peter Rásonyi wird sich so bald wohl nichts ändern. In ihren Augen steht die Ukraine ganz offenbar kurz vor dem Sieg. Während Russland weiterhin alles falsch macht, und die Niederlage nur aus Trotz nicht einräumt.

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Belästigung bei den #MeToo-Experten

In der Schweiz gibt es vielleicht 10 000 bis 15 000 Menschen, die ihr Auskommen mit Journalismus bestreiten. Sie stellen gerade mal 0,25 Prozent der über 5,1 Millionen Erwerbstätigen. Doch Journalisten berichten überdurschnittlich oft über die eigene Branche. Weil sich narzisstische Journalisten gerne selbst bespiegeln, aber auch, weil über die Medien Macht und Einfluss ausgeübt wird.

So passiert das auch in der neusten Ausgabe des «Spiegels», in der eine langjährige Redaktorin des wöchentlich erscheinenden «Magazins», Anuschka Roshani, über dessen langjährigen Chefredaktor, Finn Canonica, auspackt – worauf Blick, Zeit, NZZ, Süddeutsche, und viele mehr sofort ausführlich berichten.

Wie aus der noch am Wochenende veröffentlichten Zusammenfassung des von Arbeitgeberin Tamedia in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichts von Mai 2022 herauskommt, hatte sich Anuschka Roshani im November 2020 per Blindbewerbung beim Verleger auf den Job ihres Chefs beworben – diesen aber nicht erhalten. Später folgten längere Krankschreibungen beider Beteiligten. Roshani arbeitete von 2002 bis 2022 für «Das Magazin», Canonica schrieb seinen ersten «Magazin»-Text 1997 und war Chefredaktor von 2007 bis 2022.

Dass sich jemand wie Finn Canonica so lange in der Chefposition halten konnte, hat auch mit seinem Umfeld zu tun. Die meisten der nun öffentlich gegen ihn geäusserten, durchaus nicht harmlosen, wohl aber auch nicht strafbaren Vorwürfe sind seit vielen Jahren bestens bekannt, in der Redaktion, aber auch weit darüber hinaus. Wie bei ähnlich gelagerten Fällen kursierten entsprechende Geschichten über viele Jahre hinweg.

2017 versuchte etwa WOZ-Journalist Andreas Fagetti, der Sache im Branchenmagazin «Schweizer Journalist» auf den Grund zu gehen, doch niemand redete: «Keine Quelle wollte offen dazu stehen». Genauso ging es auch mir selbst, als ich 2015 als Medienjournalist versuchte, die Vorwürfe gegen Canonica zu erhärten: Weil niemand bereit war, die Kritik öffentlich zu äussern, kam die Geschichte nicht zustande. Auch die öffentliche Anklage von Roshani kommt nach 18 Jahren Zusammenarbeit – was ein fürchterlich langer Leidensweg ist – reichlich spät.

Dass sich dieser Fall der Belästigung in einer Redaktion abspielt, die Woche für Woche als moralische Instanz in allen Fragen des korrekten Zusammenlebens der Geschlechter auftritt, irritiert. Es ist der publizistische Vatikan für #MeToo-Fragen, der von #MeToo-Vorwürfen erschüttert wird. 2021 erhielten zwei «Magazin»-Autoren den Zürcher Journalistenpreis für die «Magglingen-Protokolle», eine Recherche über missbrauchte Kunstturnerinnen.

Wie die Vorgesetzten von Canonica in der Verantwortung stehen und seit wann sie was gewusst haben, ist für die Öffentlichkeit schwierig zu beurteilen. Der ständige Unfrieden in der Redaktion war ihnen aber durchaus bekannt. Gemäss Fagetti sollen sie etwa 20 000 Franken ausgegeben haben, nur um abzuklären, ob ein Redaktor den Computer von Chefredaktor Canonica gehackt hatte. Ergebnis: Das war nicht der Fall. Dass sich Tamedia am Ende sowohl von Canonica als auch von Roshani trennte, ist wohl richtig. Doch der Entscheid kommt viel zu spät.

Der vielleicht zäheste und mutigste Journalist des Westens sitzt währenddessen weiterhin im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Seit bald vier Jahren, ohne Erklärung und Anklage: Julian Assange. Während Journalisten Nabelschau betreiben, geht er nach und nach vergessen.

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Realität wird mit KI neu definiert

Bereits 2014 mahnte Unternehmer Elon Musk, mit Künstlicher Intelligenz (KI) nicht leichtfertig umzugehen: «Ich denke, wir sollten sehr vorsichtig mit künstlicher Intelligenz sein. Wenn ich raten müsste, was unsere grösste existenzielle Bedrohung ist, dann wahrscheinlich das.»

Womöglich dachte Musk hier eher langfristig, und stellte die Gefahr einer Selbstauslöschung der Menschheit durch KI-Technologien ins Zentrum. Die Gefahr für den einzelnen Bürger durch KI stellt sich heute aber zuerstmal anders dar.

Er wird überwacht und manipuliert, und das zumeist ohne, dass er es bemerkt. Die meisten bewegen sich ja weiterhin ziemlich ungeschützt im Internet, was es Firmen, Geheimdiensten oder Kriminellen sehr einfach macht, sie in die gewünschte Richtung zu nudgen, zu manipulieren, und Wissensvorteile über sie zu erlangen.
Der Ausweg besteht darin, dass Kryptografie breiter eingesetzt und genutzt wird. Beispielsweise mit Werkzeugen wie Threema, Signal, HTTPS oder uBlock (unser Dossier zum Thema).

Der Normalnutzer sieht sich bezüglich Wissen im Hintertreffen. Während die Big-Tech-Firmen (und damit auch die Regierungen) von Jahr zu Jahr mehr über ihn wissen, weiss er von Jahr zu Jahr weniger über sie. Es ist ein Ungleichgewicht von Wissen und damit auch von Macht entstanden, wie es zuletzt vor der Reformation existierte.
Der Ausweg besteht darin, dass der Quellcode von allem, was programmiert wird, für alle einsehbar ist: Open Source Everything heisst die Lösung. So wie die Bibel für alle zugänglich und lesbar wurde, muss auch der Quellcode für alle zugänglich und lesbar werden. Das hilft dem Normalnutzer auf kurze Frist wenig. Doch auf lange Frist wird ihn diese Transparenz auf Augenhöhe zurückbringen.

Der dritte Punkt betrifft das Verschwimmen von dem, was wir als Realität wahrnehmen. Dieses Video mit Schauspieler Morgan Freeman, publiziert im Sommer 2021, zeigt sehr schön auf, was bereits möglich ist mit Deep Fakes, also der Vorspiegelung einer Realität, die so nicht existiert. Es wird nicht mehr lange dauern, bis solche Methoden aktiv für konkrete politische oder wirtschaftliche Ziele eingesetzt werden.
Der Ausweg besteht darin, dass die Realität überprüft und so alle Zweifel ausgeräumt werden können – also im vorliegenden Fall die Frage beantwortet wird, ob in diesem Video der reale Morgan Freeman zu sehen ist oder nicht. Frei zugänglich abgelegte Informationen auf der Blockchain – ein Konzept, das 2009 mit Bitcoin in die Welt gekommen ist – werden bei dieser Prüfung eine wichtige Rolle spielen.

Mit der KI-Software ChatGPT gibt es nun einen Gesprächspartner, der jede mögliche Frage innert Sekunden beantwortet – nicht immer richtig, aber oft sehr brauchbar und erstaunlich konzise. Diese neue Welt steht vor der Tür, und sie wird uns alle überfordern, aber auch unendlich bereichern. Die Macht, die jetzt noch in den Händen weniger Programmierer, Konzerne und Regierungen liegt, muss verteilt werden. Nur eine dezentralisierte, föderalisierte und verschlüsselte Welt bringt die Macht zurück zum Individuum.

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Die Politik muss sich aus dem Sport raushalten

Mit einem grossartigen, aufregenden Finale ist gestern die Fussball-Weltmeisterschaft zu Ende gegangen. Beide Mannschaften schossen drei Tore – und am Ende hatte Argentinien etwas mehr Glück im Elfmeterschiessen. Doch nach dem Spiel drängte sich die Politik wieder in den Vordergrund.
 
Der französische Präsident Emanuel Macron drängte aufs Spielfeld und machte sich an den französischen Spielmacher Kylian Mbappé heran, was diesem sichtlich Unbehagen bereitete. Der Sportler ignorierte den Politiker, so gut er das konnte, auch Teamchef Didier Deschamps drehte sich sofort um, als er Macron entdeckte. Dann drängte sich Macron bei der Verleihung der Medaillen für den zweiten Platz an die enttäuschten und deprimierten Spieler heran, und hielt es sogar für angemessen, ihnen in der Kabine eine Predigt zu halten. Was die Spieler von einem Politiker in dieser Situation halten? Ihre Gesichter sprechen Bände.
 
Dass der Funktionär Gianni Infantino und der Emir von Katar mit Pfiffen im Stadion empfangen wurden, zeugt nicht von der Zufriedenheit des Fussballpublikums mit ihnen. Dass die beiden aber die langfädige Preisvergabe zur Show in eigener Sache machten, ist unverzeihlich. Lionel Messi, einer der grössen Spieler der letzten Jahrzehnte, wurde von ihnen im wichtigsten Moment seiner fussballerischen Karriere genötigt, das argentinische Nationaltrikot mit einem schwarzen Umhang zu verhüllen. Nun zeigen all die Siegerfotos Messi im arabischen Bischt, einem Umhang aus Kamelhaar und Schafwolle.

Auch andere Mannschaften wurden von Journalisten während dem Turnier immer wieder auf Fragen der Politik angesprochen: auf die Menschenrechtsfrage beim Bau der Stadien in Katar, auf den Umgang mit Homosexuellen in Katar, auf das Tragen einer One-Love-Binde. Die Schweizer Spieler wurden zu den Beziehungen zwischen Kosovo und Serbien befragt. Was haben sie damit zu tun? Wer schon mal als Spieler bei einem wichtigen Match auf dem Feld stand, weiss, dass Krieg herrscht. Es geht darum, dass Spiel am Ende mit allen möglichen Mitteln im Rahmen der geltenden Regeln für sich zu entscheiden. Deshalb sind Fussballer am ehesten mit Kriegern zu vergleichen: Ihre Aufgabe ist es, das Spiel zu gewinnen, nicht, politische Fragen zu analysieren.
 
Natürlich soll sich ein Spieler wie jeder Bürger frei zur Politik äussern dürfen, aber das hat so viel Gehalt wie eine Strassenumfrage. Die aufgeladene politisch-moralisch Stimmung entlud sich gestern mit der (durchaus pubertären) Geste des 30-jährigen Torhüters von Argentinen, Emiliano Martinez, der die eben gewonnene Trophäe für den besten Torhüter des Turniers vor seine Geschlechtsteile hielt – ein treffender Kommentar zur Lage durch einen frischgebackenen Weltmeister, der in der Nachspielzeit der Nachspielzeit einen Schuss des Franzosen Randal Kolo Muani in extremis rettete.

Die Aufgabe der Funktionäre liegt einzig darin, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass solche Spiele abgehalten werden können – ansonsten haben sie sich im Hintergrund zu halten. Und die Aufgabe der Politik ist es, den Sport in Ruhe zu lassen. Politiker werden auf der Tribüne geduldet, doch eigentlich hätten sie ja genügend Probleme in ihren Ländern zu lösen und müssen nicht nach Katar fliegen. Wer einen Politiker auf dem Spielfeld erwischt, sollte ihn behandeln wie einen Flitzer. Einfangen und höflich nach draussen befördern.

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