Denkfaule Konservative

Weil sie der Erfahrung ein Übergewicht einräumen, haben Konservative einen verzerrten Blick auf die Welt. Ihr Festhalten am Status Quo bewahrt zwar oft das Gute, verhindert aber auch das neue Gute. Wer richtig urteilen will, muss das Alte und das Neue unvoreingenommen gegeneinander abwägen.

"Das Familienkonzert", Stich nach einem Ölgemälde von Jacob Jordaens (Soo d'oude songen soo pepen de jongen - As the old sing, so the young twitter - Wie die Alten singen, so zwitschern die Jungen)
„Das Familienkonzert, Stich nach einem Ölgemälde von Jacob Jordaens (gemeinfrei). Übertitel des Bilds: Soo d’oude songen soo pepen de jongen – As the old sing, so the young twitter – Wie die Alten singen, so zwitschern die Jungen.

Im Prinzip (und etwas vereinfacht) gibt es nur zwei politische Haltungen. Entweder glaubt man daran, dass die Probleme am Besten von einer mit Steuergeldern finanzierten Gruppe gelöst werden und überschüttet diese mit Geld, damit die Wirkung ihrer Handlungen zunimmt (Sozialismus). Oder man glaubt daran, dass die Probleme am Besten im freien Zusammenspiel der Einzelnen gelöst werden und beschneidet die Wirkungsmöglichkeiten der mit Steuergeldern finanzierten Gruppe (Liberalismus).

Und dann gibt es die Konservativen (von „conservare“: erhalten, bewahren). Sie neigen dazu, Fragen zu ignorieren und zu verdrängen, Probleme nicht als solche anzuerkennen. Sie wollen nichts wissen vom Neuen oder vom Richtigen, sondern die Welt so bewahren, wie sie sie kennengelernt haben. Wer in seiner Kindheit gute Erfahrungen mit Kinderkrippen gemacht hat, möchte Kinderkrippen erhalten oder ausbauen. Wer in seiner Kindheit eine unbeschwerte Jugend auf dem Land erfahren hat, wehrt sich gegen eine zugebaute und übervölkerte Schweiz. Wer selbst nicht in der Schule aufgeklärt wurde, fürchtet sich davor, dass sein Kind in der Schule aufgeklärt wird. Wer als Kind Zeit in der Kirche, an Anti-Atomdemos, bei den Pfadfindern oder im Skilager verbracht hat, setzt sich nicht selten dafür ein, dass seine Kinder das auch tun.

So wird Kultur bewahrt und verteidigt, aber eine Haltung ist das keine. Zwar finden sich immer gute Gründe, das Bewährte zu verteidigen, aber vielfach sind Konservative einfach nur denkfaul, ängstlich, egoistisch und kleingeistig. Aus Angst vor Veränderungen, die sie nicht kontrollieren können oder die sie dazu zwingen würden, sich selbst zu verändern, wählen sie die Bequemste aller Lösungen, den Stillstand. Soll sich die Welt doch mal drehen, der Konservative besteigt das Karussell erst kurz bevor die Lichter ausgehen, fünf Minuten vor dem Vorletzten. Wagemutige Pioniertaten überlässt er den anderen, ihn regiert die Angst und das daraus resultierende Sicherheitsbedürfnis.

Wer einer Situation offen begegnet, wird nicht auf die Idee kommen, zum Vornherein dem Bestehenden den Vorzug zu geben. Sondern er schaut sich Altes und Neues unvoreingenommen an, bewertet Vor- und Nachteile, und urteilt dann, mit Argumenten. Während Progressive der Geschichte und der Erfahrung meist zu wenig Gewicht geben, räumen ihr Konservative zu viel ein – beide Lager sehen die Welt leicht verzerrt. Die teilweise durchaus absurden Glaubenslehren von Religionen wirken deshalb glaubwürdig, weil so viele andere daran glauben und geglaubt haben. Die Homo-Ehe wirkt deshalb unmöglich, weil jene, die sich eine solche wünschen, eine winzige Splittergruppe sind im Vergleich zur Masse der Hetero-Ehen. Ein vollausgebauter Sozialstaat, der den Menschen bis zur Hälfte ihrer Einkünfte wegnimmt, wird deshalb in all seiner Ineffizienz akzeptiert, weil sich die Menschen längst an die Enteignung gewöhnt haben. Verdienten beispielsweise Zeitungsverleger nicht schon seit Hunderten von Jahren ihr Geld mit bedrucktem Papier, bewerteten sie die inzwischen dazugekommenen weiteren Vertriebswege wohl ganz anders.

Konservative behaupten gerne, das Gute und Schöne bewahren zu wollen, und das tun sie auch oft. Es geht ihnen aber genau so oft nur um die Bewahrung der eigenen historisch gewachsenen Vorteile sowie um das Ausüben von Macht als Teil einer Mehrheit. Katholiken verwehrten den Protestanten die Ausübung ihrer Religion, weil sie ihre eigene Position dadurch bedroht fühlten. Männer verwehrten Frauen das Wahl- und Stimmrecht, weil sie ihre Macht nicht teilen wollten. Heteros verwehren Homos das Eherecht, weil sie es exklusiv für sich selbst beanspruchen. Und eine Mehrheit von 57,5 Prozent der Stimmbürger verwehrt den Muslimen in der Schweiz die Möglichkeit, kleine Türmchen an ihre Gotteshäuser zu bauen – während die etablierteren Christen mit Glocken lärmen dürfen und der Staat für sie Kirchensteuern einnimmt.

Bilden Konservative (nicht, aber auch: die politische Gruppe jener, die sich „Konservative“ nennen) eine demokratische Mehrheit, verlangsamen sich Entwicklungen. Reformen werden nicht oder zu spät angepackt. Das ist manchmal genau das Richtige, da viele Reformen und Entwicklungen eine Verschlechterung der Situation auslösen. Aber eben nur manchmal. Wer die Welt betrachtet ohne Vorurteile, wird dem Neuen in jedem Einzelfall die gleiche Gewinnchance einräumen wie dem Bewährten. In der Realität jedoch ist sie ungleich verteilt, denn die bewährte Lösung hat den Vorteil der Erfahrung auf ihrer Seite, während die neue bis zur Umsetzung ungewiss bleibt. So gewinnt statt der besten Lösung oft die Angst vor dem Neuen oder die Unempfindlichkeit gegenüber den Bedürfnissen und Problemen von anderen. Können sich Konservative denn nicht vorstellen, dass ein seit Jahrzehnten zusammenlebendes Lesben-Paar heiraten möchte, nur schon, um Rechtssicherheit im Todesfall zu schaffen? Der Versuch, die Welt aus der Sicht des Anderen zu sehen, also Empathie, ist die beste Medizin gegen allzu starre Haltungen.

Um politische Haltungen zu beschreiben, setzen die Leute nicht selten konservativ gleich mit rechts und links mit progressiv. Dabei sind viele, die sich für besonders progressiv halten, konservativ durch und durch. Umweltschützer, Grüne und Hippies wollen die Welt als eine Art unbewirtschafteten Garten Eden bewahren, in dem man gemeinsam und harmonisch den Status Quo verwaltet. Sozialdemokraten wollen den Sozialstaat vor jedem Umbau schützen (und erhalten so die Bürokratie). Zutiefst konservativ sind selbstverständlich auch alle Feinde neuer Technik, die etwas Neues erst dann annehmen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Den perfekten Konservativen findet man bei den Kindern und bei den Greisen – unter beiden finden sich nur wenige, die möchten, dass sich etwas ändert.

Dieser Artikel erschien am 23. April 2014 in redigierter Form in der „Basler Zeitung“.

2 Gedanken zu „Denkfaule Konservative“

  1. ganz toller Artikel der gerade das politische Blockdenken vom Bergriff konservativ entkoppelt.

    Gerade im Bereich „Neue Energie“ gibt es zumindest in Deutschland kaum eine konservativere Partei wie die Grünen, dabei bietet die neue Technik nicht nur Umweltaspekte, sondern auch Arbeitsplätze und damit Einkommen und Wettbewerbsfähigkeit.

    Beste Grüße

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