Die Ausschaffungsinitiative empört die Medienmacher. Jene, die die tägliche Integrationsarbeit leisten, haben aber trotzdem „Ja“ dazu gesagt. Härtere Ausländergesetze sind zukünftig europaweit zu erwarten.
Wer gestern auf Twitter unterwegs war, konnte von Leuten lesen, die …
… sich fragten, ob die Schweiz „ein einig Volk von SVP-Patridioten“ sei.
… fanden, dass jeder, der mit „Ja“ abgestimmt hat, „ein Scheiss Nazi!!!!!!!!!“ sei.
… einfach nur „Kotz!“ riefen.
Bild: CC Nicolas Nova, BY-Lizenz
In der nicht als linksextrem verdächtigen „Welt“ glaubt Annette Prosinger in einem Kommentar unter dem Titel „Unschweizerischer“, den Schweizern würden jetzt ihre Ausländer zu viel – die in der Initiative zwingend mit der Ausschaffung verbundene Kriminalität kommt darin nicht vor:
Es ist ein Unbehagen an der modernen Welt, am Tempo der Globalisierung. Ein Problem, das viele Länder haben. Doch die vor hundert Jahren noch weitgehend bäuerlich strukturierte Schweiz tut sich damit besonders schwer.
Klar, andere Länder waren vor hundert Jahren natürlich ganz woanders.
Die Frage, die @blinski stellt, ist also nur folgerichtig:
Handelt es sich also bei der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer um Neonazis? Kann die Schweizerische Volkspartei SVP, die hinter der mit rund 53 Prozent aller Stimmen angenommenen Volksinitiative steckt, tatsächlich als „rechtspopulistische Hassgruppierung“ gesehen werden, wie es Mathias Möller sieht? Auch wenn sie in den letzten Parlamentswahlen 2007 29 Prozent aller Wählerstimmen auf sich vereinte und damit als grösste Partei der Schweiz jeden dritten oder vierten Schweizer Bürger vertritt?
Ich finde: Nein. Wie schlimm oder erfreulich das, was beschlossen wurde, tatsächlich ist, mag jeder für sich entscheiden. Ich habe die Ausschaffungsinitiative und die Argumente ihrer Gegner in diesem Beitrag auf direktdemokratie.com zusammengefasst.
Zur Entscheidung anzumerken sind folgende Punkte:
1. Die Schweiz hat mit 21.6 Prozent (Stand: 2009) den nach Liechtenstein und Luxemburg höchsten Ausländeranteil Europas. Zum Vergleich: In Deutschland sind 8.9 Prozent der Bevölkerung Ausländer (Stand: 2008). Man kann so wohl von einem erhöhten Druck sprechen, der auf den Stimmberechtigen lastet. Ich meine damit den Kampf um Arbeitsplätze, um Beförderungen, um Wohnraum, aber auch eine erhöhte Steuerbelastung durch staatlich verordnete Integrationsbemühungen.
2. Mit Rassismus hat die in Punkt 1 beschriebene Lage nichts zu tun. Jemand, der rassistisch ist, ist das in allen möglichen Konstellationen.
3. Sind kriminelle Ausländer ein Problem in der Schweiz oder nicht? Die Frage hat das Land schon vor der Abstimmung gespalten. Man kann einwenden, dass die doofen Schweizer Landeier doch bitteschön keine Angst vor kriminellen Ausländern haben sollen. Aber Angst ist nun mal ein Gefühl, das zu sehr vielen Entscheiden führt, auch zu politischen. Wer sich über die ängstliche Rechte mokiert, soll sich bitte auch vor Augen führen, vor was sich Nicht-Rechte alles fürchten und welche Massnahmen (und Kosten für die Allgemeinheit) das mit sich bringt: Sicherheitsvorschriften, Verbote, Waldsterben, Feinstaub, Handystrahlen, BSE, Vogelgrippe, Schweinegrippe – die Liste scheint endlos.
Angst ist nichts mehr als eine mögliche Erklärung. Man kann auch ganz rational auf die Erkenntnis kommen, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Land jene Kriminellen, die sie ausweisen kann, auch ausweist.
Der Artikel 25 der Schweizer Bundesverfassung ist übrigens nach wie vor in Kraft. In Absatz 2 und 3 heisst es:
– Flüchtlinge dürfen nicht in einen Staat ausgeschafft oder ausgeliefert werden, in dem sie verfolgt werden.
– Niemand darf in einen Staat ausgeschafft werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht.
4. Würde die gleiche Abstimmung in anderen europäischen Ländern auf ganz andere Ergebnisse kommen? Ich glaube nicht.
Es ist nicht auszuschliessen, dass andere europäische Länder, sollte der Druck der Zuwanderung Bestand haben, bald ähnliche Gesetze beschliessen. Die eher grundlagenlose, nicht direktdemokratisch legitimierte Verlagerung von Roma aus Frankreich nach Bulgarien und Rumänien der Regierung Sarkozy ist wohl als Vorbote einer solchen Entwicklung zu werten.
5. Der Gegenentwurf des Parlaments, in dem die Integration von Ausländern mit einem sechsteiligen Artikel (Art. 121a) in der Bundesverfassung verankert werden sollte, wurde klar abgelehnt. Man muss davon ausgehen, dass die Bürger kein Interesse an Paragrafen haben, die nur schwer mit der Realität in Verbindung gebracht werden können und meist nur graue Theorie bleiben.
6. Der nun in der Bundesverfassung verankerte Text muss erst mal in Gesetze umgewandelt werden. Das wird nochmals zu Diskussionen führen. Es ist aber ziemlich sicher, dass niemand, der ein Formular falsch ausfüllt oder für einen Kleinbetrag Cannabis verkauft, in Zukunft auf der Stelle ausgewiesen wird. Es handelt es sich dabei um Schreckensszenarien, die nur eine sehr kleine Chance haben, Realität zu werden. Es ist aber zum Beispiel so, dass ein in der Schweiz geborener Österreicher, der seine Frau umbringt, nach Verbüssung seiner Strafe ausgewiesen wird und für 5 bis 15 Jahre die Schweiz nicht mehr betreten darf.
7. Was von vielen oft vergessen oder absichtlich nicht erwähnt wird: Die Initiative richtet sich nicht gegen Ausländer an sich, sondern gegen schwerkriminelle Ausländer und solche, die vorsätzlich den Sozialstaat betrügen. Es haben sich im Vorfeld einige in der Schweiz lebende Ausländer für die Initiative ausgesprochen – schliesslich fühlen sich rechtschaffene und sich hervorragend integrierende Ausländer von ihren kriminellen Landsleuten zu Unrecht ins Zwielicht gerückt.
8. Die Ausschaffung, bzw. Ausweisung ist die Strafe an sich. Glaubt jemand tatsächlich, dass sich ein rechtskräftig wegen schwerem Drogenhandel verurteilter Nigerianer, der den weiten und harten Weg bis in die Schweiz geschafft hat, von Schweizer Gefängnissen abschrecken lässt, einen nächsten Gesetzesbruch zu unterlassen, wenn ihm keine andere Optionen offenstehen?
9. Die klaffende Lücke zwischen Elite und Volk, über die ich vor einem Jahr schon mal geschrieben habe, ist wie schon bei der Minarett-Initiative sehr schön zu sehen. Nehmen wir dazu die Auszählung der Bezirke der Stadt Zürich (Ja-Stimmen in Prozent):
Die tiefste Zustimmung zur Initiative findet sich in den Kreisen 4 und 5 – frühere Arbeiterquartiere, die heute zu einem guten Teil von Studenten, Medienschaffenden und Künstlern bewohnt werden. Die höchste Zustimmung hingegen findet sich im Kreis 12, dem Armenquartier Schwamendingen (wenn man denn in Zürich überhaupt von Armenquartieren reden kann).
Überhaupt muss sich die gesamte Elite tiefgreifende Gedanken machen, ob sie die Stimmbürger überhaupt vertritt. Schliesslich wurde die „Ja“-Parole nur von der (die Volksinitiative einreichenden) SVP, der EDU und der Lega ausgegeben. Alle anderen haben vorgeschlagen, mit „Nein“ zu stimmen. Namentlich sind das die Regierung, das Parlament, die Parteien FDP, CVP, SP, GPS, BDP, EVP, GLP, CSP und PdA, die Verbände SGB (Gewerkschaftsbund) und Travailsuisse, der Kirchenbund, die Bischofskonferenz und die Flüchtlingshilfe.
10. Lautes Geschrei über den Ausgang der Abstimmung und leise Genugtuung über die nachfolgenden, undemokratischen Ausschreitungen ist vor allem von Leuten zu hören, die (schon finanziell) dazu in der Lage sind, sich alle problematischen Ausländer schön vom Leibe zu halten. Viele von ihnen leben zwar gerne neben und mit Ausländern – aber wenn es konkret darum geht, ihr Kind in einer Schule unterzubringen, in der es in der deutschsprachigen Minderheit wäre, bringen sie alles in Bewegung, damit das nicht geschieht und flüchten. Die meisten von Ihnen leisten kaum (unbezahlte) Integrationsarbeit – spielen sich aber gerne als moralische Instanz auf, wie bitteschön alle anderen denken sollen und wie sie sich zu verhalten haben.
Andere können das nicht. Sie sind am Arbeitsplatz und in der Freizeit dazu gezwungen, sich im eigenen Land mit Leuten zu arrangieren, die andere Sitten pflegen und andere Sprachen sprechen. Trotzdem sind sie sind es, die den Grossteil der konkreten Integrationsarbeit leisten. Die Frage, ob diese überhaupt notwendig ist oder ob verschiedene Kulturen und Sprachen tatsächlich völlig problemlos nebeneinander her leben können, sei mal dahingestellt.
Nochmals: Die tatsächliche Integrationsarbeit mit Ausländern, die nicht komplett problemlos zu integrieren sind, wird zumeist nicht von Journalistinnen, Künstlern oder Studenten in den Zürcher In-Bezirken geleistet. Sondern von Kindergärtnerinnen in Schwamendingen, von Fussballtrainern in Bülach und von Sanitärinstallateuren in Fehraltorf.
Diese Leute kommen mehrheitlich gut klar mit Ausländern, aber mit Kriminellen wollen sie nichts zu tun haben. Und genau so haben sie auch abgestimmt.
Andere Stimmen:
– Kommentar von Andreas Von Gunten auf merelythinking.net
– „Auswirkungen der Ausschaffungsinitiative“ (integrations-politik.blogspot.com, Semih Kutluca)
– „Gefährliche Minderheiten-Sonderregelungen“ (augenreiberei.ch, ts)
– „Die Zeichensetzer marschieren durch“ (wahlkampfblog.ch, Mark Balsiger)
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