Warum höre ich nach fast neun Jahren auf mit der wochentäglichen Linkrubrik «6 vor 9» auf Bildblog.de? Weil die Auswahl von Links Alltag geworden ist. Weil die Zukunft des Journalismus immer noch nicht geklärt ist. Und weil es eben kein Kinderspiel ist, Medienkritik jeden Morgen fehlerfrei zusammenzufassen.
Wiederholungen
Wenn mich nach neun Jahren «6 vor 9» etwas nicht mehr interessiert, dann ist es die Frage nach der Zukunft des Journalismus und die entsprechenden Thesen dazu. Ich kann es versichern: Diese Frage wurde inzwischen von allen möglichen Personen in allen möglichen Variationen gestellt. Den Leser hat sie wahrscheinlich noch nie interessiert und einige Verleger und Journalisten auch nur so weit, als es sie selbst betrifft. Die Antworten darauf sind so oder so wertlos, weil spekulativ. Wie die Zukunft wohl wird? Ob es Gott gibt? Wie er wohl aussieht? Man kann sich darüber endlos unterhalten. Und viel Zeit damit vertun.
Repetitiv sind leider auch die Persönlichkeitsverletzungen, die Falschmeldungen und die Rudelbildungen von Journalisten. Auch wenn ich mir einbilde, dass anhaltende Medienkritik durchaus etwas verbessert und verbessert hat. In einzelnen Redaktionen. Bei einzelnen Journalisten. Bei einigen Themen.
Kuratieren ist Alltag geworden
Als am 2. August 2006 der erste Beitrag von «6 vor 9» auf Medienlese.com online ging, da waren regelmässige Linksammlungen etwas Seltenes. Links auf Blogs waren noch seltener. «Wieso sollte man das überhaupt tun?», fragten die Journalisten damals. Dass es nicht drum geht, was dran steht, sondern drum, das drin ist, haben einige von ihnen bis heute nicht verstanden. Es benötigte jahrelange Überzeugungsarbeit, dass Journalisten sich überhaupt dazu bequemten, sich mit dem zu beschäftigen, was ausserhalb ihrer bekannten Medienwelt geschieht. Das gilt auch für die Medienkritik. Jene Themen, die «6 vor 9» seit Jahren thematisiert, finden erst seit Kurzem endlich den Weg in die etablierten Medien, zuletzt zum Beispiel als vierseitige Titelgeschichte in der «Zeit» vom 25. Juni 2015.
Erfunden wurde die Linksammlung im damaligen Blogwerk-Büro der Post St. Gallen von Peter Hogenkamp und mir. Das Rad haben wir damit keineswegs neu erfunden – Perlentaucher.de beispielsweise war vor «6 vor 9» um 9 Uhr da, und ist es immer noch. Zum Erfolg der Rubrik geführt hat hoffentlich ihre Qualität. Vor allem aber bemerkt wurde die Konstanz ihrer Veröffentlichung, denn ausgefallen ist die Rubrik noch nie, und meistens war sie auch um 9 Uhr online, wenn auch nicht immer:
Sensationell verschlafen. "6 vor 9" kommt heute Stunden später.
— Ronnie Grob (@ronniegrob) July 21, 2011
Vor allem Kreativarbeiter in Berlin, für die 11 Uhr morgens noch tiefste Nacht ist, sind mit dieser Leistung tief zu beeindrucken. Hierzu ist zweierlei anzumerken. A) Hätten alle die Arbeitsmoral und die Zuverlässigkeit von Journalisten, würde das Wirtschaftsleben zusammenbrechen. B) Einer der Gründe für den Erfolg von Tageszeitungen ist, dass sie eben täglich erscheinen. Warum sollte das für das Internet nicht auch gelten?
Nachahmer haben sich auch gefunden. Die Linkrubrik auf Etailment.de heisst etwa «Kurz vor 9», die Linkrubrik auf Medienrot.de «3 vor 6». Die nach wie deutlichste Kopie kommt von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Unter dem Titel «5 vor 10» veröffentlicht die «Denkfabrik» seit Jahren Links zu Wirtschaftsthemen. Das Vorbild ist bis in die Details unverkennbar.
Heutzutage gibt es Links zu Medienthemen, wo man hinschaut, und sie verbreiten sich auch immer schneller: «Frisch ab Presse» bei Medienwoche.ch, die Links im Meedia-Newsletter, Turi2, Wirres von Felix Schwenzel, das Altpapier und dann natürlich in den Sozialen Medien, vor allem unter Journalisten auf Twitter und neuerdings auch auf Linksammlung spezialisierte Dienste wie niu.ws von Blogwerk-Gründer und «6 vor 9»-Miterfinder Peter Hogenkamp.
Der Druck, keine Fehler zu machen
Seit 2009 ist die Rubrik bei Bildblog.de und somit unter der täglichen Beobachtung von kritischen Journalisten, Medienkritikern, Deutschlehrern und Tippfehlerfindern. Das Ziel, jeden Tag eine Ausgabe zu liefern, die keinen Quatsch behauptet und keinen verlinkt, ist nicht leicht zu erreichen. Schliesslich muss, wer sich als Besserwisser auf das hohe Ross der Medienkritik setzt, selbst unangreifbar sein. Das jeden Tag zu erreichen, ist eine nicht zu unterschätzende Belastung. Denn anders als die anderen Bildblog-Beiträge und journalistische Beiträge überhaupt wurde «6 vor 9» noch nicht einmal gegengelesen. Nennen wir es Eigenverantwortung auf hohem Niveau, klingt das sofort überheblich. Tatsache ist, dass ich nicht darum herum kam, täglich mindestens zwei Stunden einzurechnen für das Lesen und Finden der verlinkten Beiträge, sowie eine Stunde für das Schreiben von «6 vor 9». Mit etwas Routine geht’s auch etwas schneller, und vielleicht macht meine Nachfolgerin Natalie Mayroth nicht so ein Drama draus wie ich, und liefert das schneller und besser.
Korrektes Verlinken auch heute nicht selbstverständlich
Bis heute können viele nicht richtig verlinken. Ihre Links zeigen auf die Hauptseite, auf die Kommentare, auf eine falsche Seite oder funktionieren erst gar nicht erst. Unkorrektes Verlinken wird aber auch von den Verlagen befördert, die ihre Seiten aufsplitten. Um zu mehr Seitenaufrufen und in der Folge zu mehr Werbung zu gelangen. Als Beispiel Faz.net. Der korrekte Link zur (auf einer Seite angezeigten) Story «Helikopter-Eltern: Lasst uns in Ruhe!» ist:
Doch als Standard zeigt Faz.net die gesplittete Seite an:
Klickt man im Text auf «Artikel auf einer Seite», gelangt man immer noch nicht zum korrekten Link, sondern hierher:
(…) 13645923.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
Wer seine Leser ernst nimmt, macht es wie Mario Sixtus:
(Macht ihr eigentlich auch immer erst den URL hübsch, schneidet Müll-Parameter ab und so, bevor Ihr einen Link auf Twitter postet?)
— Mario Sixtus ?? (@sixtus) June 17, 2015
Feedback
Bildblog-Verlinkungen bleiben selten unbemerkt. Einige der verlinkten Websites zählen gar so viele Besucher wie sonst das ganze Jahr nie. Pro2koll.de schreibt:
«Mein letzter Artikel hat heute, an nur einem Tag, so viele Unique Visits erhalten, wie ich nicht mal im gesamten Jahr 2010 hatte.»
Und Einvideogehtumdiewelt.blogspot.de berichtet:
«Innerhalb der ersten Stunde (!) nach Veröffentlichung verzeichne ich hier auf diesem Blog 1072 Besucher… Und im Laufe des Tages werden es 5643 Zugriffe.»
Konkret wirken sich die Verlinkungen je nach Tag und Thema unterschiedlich aus, aber Linkpower hatte die Rubrik schon:
Danke @BILDblog, ihr habt mir heute über 47.000 Zugriffe auf http://t.co/HdbiFZjm beschert. #korkenknallen #hhbue #enteignetspringer
— Kersten Artus (@Kersten_Artus) November 29, 2011
Ratet mal, wann @BILDblog Links zu Journalisten-Tools.de veröffentlicht hat? Danke für so viel Traffic! http://t.co/jge84c6iwK
— Journalisten-Tools (@journalist_tool) December 17, 2014
Zuwendung und Linkgeiz
Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen einer Verlinkung. Wer (im besten Fall positive) Zuwendung erhält, fühlt sich in seiner Tätigkeit bestärkt und macht weiter mit seiner Arbeit. Im Unterschied zur Paraphrasierung, welche die ursprüngliche Arbeit verwischt, ja vernichtet, weist der Link auf den Urheber, auf seine Arbeit, auf seine Verdienste hin. «6 vor 9» mag von einigen Leuten als Zusammenfassung von dem, was gerade so an Medienkritik aktuell ist, gelesen worden sein. Im Zentrum aber standen immer die Links, also die Hinweise auf die kreative Arbeit verschiedenster Urheber.
Um so stossender ist der Linkgeiz der etablierten Medien. Einige der dort angestellten Journalisten glauben, in einer eigenen Liga zu spielen und scharwenzeln lieber um Exponenten der Elite, als sich, und sei es auch nur mal zur Abwechslung, mit den Äusserungen von Bloggern abzugeben, sie gar mit einem Link zu würdigen. Sollte nicht die sogenannte vierte Gewalt Anwalt der Bürger sein, aller Bürger? Die Auseinandersetzung zwischen Bloggern und Journalisten ist eben auch ein Kampf «Neue vs. Etablierte». Und das bedeutet manchmal auch «Junge vs. Alte», «Machtlose vs. Mächtige» oder «Nicht-Akademiker vs. Akademiker». Das Internet hat den bisher ohnmächtig der Macht ausgelieferten eine Stimme verliehen. Aber was ist, wenn Journalisten und Medienkritiker diese Stimmen ignorieren? Dann ändert sich (vorerst) nichts.
Zuwendung ist für alle wichtig, für Publizisten jedoch überlebenswichtig. Die grosse Journalistin Margrit Sprecher hat die Probleme unserer Branche 2009 mal so zusammengefasst:
«Es ist entwürdigend, wie mit den Jungen umgegangen wird. Ihre Artikel werden zusammengestrichen oder, noch schlimmer, der bestellte Text erscheint nie und wird auch nicht bezahlt. Das beschädigt das Wichtigste, das man in unserem Beruf haben muss: Selbstvertrauen.»
Hat sich das seither verbessert? Ich zweifle daran. In den Teppichetagen des Journalismus gehört es zur Attitüde, stets vor Selbstvertrauen zu strotzen. Zweifeln dürfen alle anderen.
Erfreulich ist es also, wenn es mit dem Setzen von Links gelingt, den Schreiber zu bestärken. Und dem Leser neue Welten zu eröffnen. «Dies ist das dritte Blog bisher, dass ich komplett bis zu seinem Anfang gelesen habe, fasziniert von einem Einblick in eine Welt, über die man immer soviel abstrakt in den Medien liest, oder manchmal amüsiert/entsetzt ‹Gespräche› in der S-Bahn belauscht, die aber ansonsten fremd bleibt», schrieb jemand unter einen Beitrag von Lehrerin Frau Freitag über den «Besucheransturm» nach einer 6-vor-9–Verlinkung.
Kritik
Selbstverständlich gab es nicht nur Lob als Rückmeldung, sondern auch Kritik:
@torstenk Danke. #Bildblog lese ich nicht mehr, seitdem die mit 6 vor 9 ein Reality Distortion Shield vor sich hertragen.
— Detlef Borchers (@dborch) December 7, 2010
Bei einigen Verlinkungen wusste ich schon im Voraus, dass sie mehrere kritische E-Mails nach sich ziehen werden. Gut stehen die Chancen zum Beispiel, wenn überzogene Politische Korrektheit mit guten Argumenten in Frage gestellt wird. Sagen wir es so: Meinungs- und Redefreiheit in Deutschland gilt schon. Aber eigentlich vor allem dann, wenn es auch «stimmt», was gesagt wird. Alle anderen sollten besser mal schweigen. Die Sichtweise auf die Redefreiheit in Deutschland ist eine ganz andere als die angelsächsische geprägte, wahrhaft liberale Freedom of Speech. Als Beispiel sei diese Zuschrift aus der Redaktion eines grossen deutschen Wochenmagazins erwähnt:
Dass Sie Ihre Leser für mündig halten, in allen Ehren: aber ich finde es schon sehr mutig, wie wenig Berührungsängste Sie da haben.
Leserpost nach einer Verlinkung lautet aber auch mal so:
bin ich behindert im kopf oder WAS ZUR HÖLLE IST DA LOS? ihr findet diesen typen doch nicht gut? geschweige denn den artikel dazu?!? der typ verteidigt broder und KELEK!!! (…) wieso promotet ihr das? oder wolltet ihr nur darauf hinweisen, was der typ für scheiße labert??
Ich bin davon überzeugt, dass eine freie und offene Debatte für Demokratien wichtig ist, weshalb ich eigentlich interessante Beiträge nur dann nicht verlinkt habe, wenn sie in einer ganz und gar unangemessenen Form daher kamen. Sogar «Bild» hat es schon mal mit einem medienkritischen Beitrag in «6 vor 9» geschafft, und das will etwas heissen auf Bildblog.de.
Dank
Bildblog-Mitgründer Stefan Niggemeier hat den Sinn und Zweck von «6 vor 9» mal so zusammengefasst, und ich bin hier, wie in journalistischen Fragen oft, einig mit ihm:
„6 vor 9“, so wie ich es verstehe – aber die Auswahl liegt allein bei Ronnie Grob – verlinkt interessante, lesenswerte Beiträge, gerade auch solche, die der vorherrschenden Meinung widersprechen. Eine Verlinkung bedeutet nicht, sich mit dem verlinkten Inhalt gemein zu machen, den Autor zu „fördern“ oder ihm „die Stange zu halten“, sondern nur, seinen Beitrag für lesenswert zu halten.
Ich danke Stefan und allen Mitarbeitern bei Bildblog, dass sie diese innere Meinungsfreiheit ermöglicht haben. Etwas wie «6 vor 9» würde vielen anderen Medien auch gut stehen.
Erneut ausdrücklich danken möchte ich auch den 62 Spendern um Initiant @sachark, die das Format 2009, als es von der Einstellung bedroht war, mit 2000 Euro in drei Tagen gerettet hatten. Und natürlich allen Unterstützern von Bildblog.
Learnings
Ich bin als Blogger in den Journalismus gekommen und habe sehr unbescheiden gleich als Medienkritiker und Alleinverantwortlicher für eine medienjournalistische Linksammlung angefangen. Ein Risiko, fürwahr: Denn wer nicht zuerst mal die Schwimmhilfen montiert und im seichten Wasser planscht, sondern sich gleich auf den 10-Meter-Sprungturm wagt, erreicht das kalte Wasser nicht immer formvollendet und riskiert gar einige Bauchlandungen. So war mir zu Beginn offenkundig gar nicht so klar, dass die korrekte Kennzeichnung von Zitaten etwas Wichtiges ist. Also sind die ersten Ausgaben ohne erschienen, im simplen Copy-Paste-Modus. Auch andere Fehler habe ich stets in aller Öffentlichkeit gemacht. Das ist das Risiko des freien Bloggers, den kein erfahrener Chefredaktor von den ärgsten Sünden abhält. Tatsächlich aber waren diese neun Jahre äusserst lehrreich für mich. Darüber, was man nicht machen sollte im Journalismus, weiss ich nun einiges. Alles andere bleibt auszuprobieren.
Mehr zu «6 vor 9»
«Es ist harte Arbeit, diese sechs Links zu finden.»
Peter Sennhauser, 2007
«Varianz und Kontinuität, zwei klassische Nachrichtenfaktoren, stechen bei 6 vor 9 besonders hervor.»
Marc Reichwein, 2011
«Am Montag um 8.54 Uhr waren sie wieder da, pünktlich wie Hui Buh»
Süddeutsche Zeitung, 2015
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